"Jedes Kind ist eine besondere Schöpfung"

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Als Kinder- und Jugendpsychotherapeutin hat Christa Meves viel Erfahrung mit den Problemen junger Menschen gesammelt. In ihren Büchern mit einer Gesamtauflage von fünf Millionen warnt sie vor Fehlentwicklungen, zeigt Auswege auf, vor allem im Bereich der Erziehung. Um Erziehungsfragen kreist daher auch das folgende Gespräch.

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Als Kinder- und Jugendpsychotherapeutin hat Christa Meves viel Erfahrung mit den Problemen junger Menschen gesammelt. In ihren Büchern mit einer Gesamtauflage von fünf Millionen warnt sie vor Fehlentwicklungen, zeigt Auswege auf, vor allem im Bereich der Erziehung. Um Erziehungsfragen kreist daher auch das folgende Gespräch.

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dieFurche: Sie haben in Ihren Büchern immer wieder darauf hingewiesen, daß die Vernachlässigung der Kinder in den ersten Lebensphasen gravierende Folgen für die spätere Persönlichkeitsentwicklung hat. Sie beobachten in Ihrer Beratungstätigkeit häufig Depressivität bei Jugendlichen. Gibt es für sie Vorzeichen schon in der Kindheit?

Christa Meves: Solche Kinder ecken in ihrer Umgebung an, etwa dadurch, daß sie faul herumsitzen, nicht sprechen oder "pampig" sind. In der Praxis sagen mir die Mütter, ihr Kind sei ein "Nein-Sager". Auf ein Ja kämen zehn Nein. Es gibt Widerstand auf der ganzen Linie. Im Kindesalter zeigen sich außerdem viele Symptome: häufiges Kauen an den Fingernägeln, Bettnässen bis an den Rand der Pubertät, nicht von selbst gemachte Schulaufgaben ...

dieFurche: Was können Eltern, die an ihrem Kind diese Antriebslosigkeit registrieren, tun?

Meves: Wenn man spürt, dieses Kind ist - aus welchen tragischen Gründen auch immer - in seinem Urlebensrecht zu kurz gekommen, dann muß man den Versuch machen, Versäumtes nachzuholen. Allerdings nicht durch Verwöhnung. Also nicht fortgesetzt Schlecker in den Mund schieben oder technische Apparaturen vom Walkman bis zum Fernseher ins Zimmer stellen. Man muß sich vielmehr individuell um das Kind kümmern: "Ich und Du, wir beide." Die seelische Entwicklung geht im Grunde aus der Dualität hervor, aus dem Du und Ich. Deswegen wird der Säugling so nah an die Mutter gebunden.

dieFurche: Soll man also auch später, also etwa einem Vierjährigen, noch Körperkontakt bieten?

Meves: Einem Vierjährigen, ganz und gar! Natürlich, bei den neun-, zehn- oder elfjährigen Kindern muß man schon darauf achten, daß dies nicht zu kleinkindhaft geschieht. Da muß man mit dem Kontakt sorgsamer sein. Aber die Vierjährigen dürfen noch "nachgeknuddelt" werden ... Sie brauchen viele Streicheleinheiten. Das Zu-Bett-Gehen zu einem Ritual zu machen, ist ganz wichtig. Nicht die Kinder abrupt abschieben und nur auf Waschen und Sauberkeit - die sicher auch wichtig ist - achten! Noch ein bißchen am Bett sitzen, über den Tag sprechen und vor allem Vorlesen. Vorlesen von Anfang an. Kleinen Kindern aus Bilderbüchern Gute-Nacht-Geschichten vorzulesen, ist laut amerikanischen Studien ein Mittel die Intelligenz der Kinder zu steigern. Auf diese Weise werden sie später zu Leseratten ...

dieFurche: Und nach den Bilderbüchern?

Meves: Man sollte sich zum Beispiel an die Märchen halten. Sie enthalten ja viel mehr als nur Kindergeschichten. Die Märchen enthalten Lebensweisheiten. Die Unterscheidung zwischen Gut und Böse kann den Kindern so nahe gebracht werden.

dieFurche: Sind die Märchen nicht viel zu grausame Geschichten?

Meves: Gewiß, wichtiger aber ist, daß die Geschichten immer gut ausgehen: Die Guten werden belohnt und die Bösen bestraft. Daß das Böse fort ist, ist für Kinder von großer Wichtigkeit. Sie kennen ja auch das Böse in sich selbst und haben eine Sehnsucht danach, daß das Böse ausgeschaltet wird.

dieFurche: Sind Haustiere für die emotionale Entwicklung der Kinder wichtig, vor allem für eher verschlossene?

Meves: Wir Psychotherapeuten sind sehr dafür, daß Kinder tierische Hausgenossen haben. Gerade in Haushalten, wo Eltern wenig Zeit haben, hat sich der Hund nach wie vor am besten bewährt. Für Kinder ist es vom siebenten, achten Lebensjahr ab von großer Bedeutung, selbst einen Hund zu haben. Sind sie kleiner, gehen sie sehr oft nicht tiergerecht mit dem Hund um. Aber ihn später zum Gefährten zu haben, ist ein ausgesprochenes Therapeutikum für Kinder, die selbst zu kurz gekommen sind.

dieFurche: Soll man Buben anders als Mädchen erziehen?

Meves: Wie bei allen Dingen haben die Extreme etwas Ungutes. Wenn Sie sich das vorige Jahrhundert mit seiner scharfen Trennung zwischen Jungen und Mädchen anschauen, dann ist sicher zu sagen, das sei übertrieben gewesen. Ebenso übertrieben ist die völlige Gleichheit. Es gibt ja eine Gleichheitsideologie, die vom Marxismus herkam. Da wollte man dem Menschen einreden, er sei so eine Art Kuchenteig, dessen Ausformung nur durch die Gesellschaft erfolge. So entstand der Impuls, die Mädchen wie die Burschen zu behandeln, weil man behauptete, die Mädchen seien nur durch ihre Benachteiligung so, wie sie sind. Das ist aber unwahr. Vielmehr sind Männer und Frauen von Anbeginn an - die Gehirnforschung hat es bestätigt - sehr unterschiedlich angelegt. Sie haben eine andere Hormonlage und ein unterschiedlich funktionierendes Gehirn. Den Kindern wird man daher nur dann ganz gerecht, wenn man diese Vorgabe beachtet. Daß man Mädchen unbedingt ebenso zur Beschäftigung mit Technik drängt, wie es die meisten Buben schon von sich aus mit drei Jahren tun, ist ungut. Die Dominanz ihrer Interessen liegt eben anderswo, etwa im Betreuen. Die Puppen zum Beispiel sind den Mädchen einfach nicht auszutreiben. Die Mütterlichkeit ist offensichtlich schon im kleinen Mädchen angelegt. Sie möchte sich entfalten. Sie sich nicht entfalten zu lassen, ist eine Dummheit unserer Zeit.

dieFurche: Ab welchem Alter ist es sinnvoll, diese Besonderheiten in der Erziehung zu berücksichtigen?

Meves: Von Anfang an sollte man berücksichtigen, daß jedes Kind - unabhängig vom Geschlecht - ein besonderes Wesen ist. Jedes Kind hat seine speziellen Eigenarten. Jedes ist eine neue, kunstvolle Schöpfung Gottes. Das sollte von Anfang an beachtet werden. Auch in bezug auf die Begabung. Das eine Kind wiegt sich bei Musik schon mit einem Jahr rhythmisch mit und dem anderen ist das vollkommen egal, ein anderes ist sehr geschickt ... All das ist zu beachten. Auf keinen Fall darf man die Kinder nach der eigenen Facon prägen. Der kleine Sohn soll nicht ein Abklatsch vom Vater werden. Er muß auch nicht den Beruf des Vaters übernehmen. Die besondere Begabung des Kindes zu erkennen, ist unsere erzieherische Aufgabe. Man sollte da sehr hellhörig sein.

dieFurche: Sind nicht auch Regeln und Ordnungen von großer Bedeutung?

Meves: Sicher. Das Kind muß auch auf Ordnungsprinzipien hingelenkt werden, die nun einmal in unserer Welt üblich sind. Viele Jugendliche sträuben sich heute gegen die Ordnung. Ihnen mache ich an der Straßenverkehrsordnung klar, wie das Chaos ausbrechen würde, wenn wir uns nicht an Spielregeln, die von der Polizei kontrolliert werden, halten. Nichts würde mehr gehen. Und das brauchen wir eben auch in unserem persönlichen wie im gesellschaftlichen Leben.

dieFurche: Werden nicht meist die ältesten Kinder von den Eltern überfordert?

Meves: Das trifft häufig zu. Die ersten bekommen "die volle Pulle" der elterlichen Bemühungen ab. Das kann des Guten zu viel sein. Wenn es etwa heißt, ein Kind soll viel Anregung bekommen, so bedeutet das ja nicht, daß dies Tag und Nacht geschehen muß. Auch hat es nur die Eltern als Vorbilder. Und da muß das Kind sehr hoch gucken, um diesen Vorbildern nachzueifern. Nachgeborene Kinder haben es da viel leichter. Sie richten sich nach dem Geschwister, das jeweils vor ihnen ist. Auch die übertriebenen Bemühungen der Eltern schwächen sich mit der Kinderzahl ab. Alles wird selbstverständlicher. Die Eltern sind weniger unsicher. Und das kommt diesen Kindern zugute. Mit jedem Kind wird die Erziehung leichter. Man sollte deshalb ruhig den Mut zur Großfamilie haben. Erste Kinder sind jedenfalls häufig schüchterner, introvertierter. Intellektuell sind sie meist recht weit. Aber die soziale Anpassung ist häufig nicht so schnell vorhanden. Sie hängen länger am Rockzipfel. Älteste Kinder sollte man daher nicht zu früh in den Kindergarten schicken.

dieFurche: Viele Eltern leiden unter dem Streit der Kinder. Wie stärkt man Ihrer Erfahrung nach die Solidarität der Kinder untereinander?

Meves: Das ist ein schwieriges Gebiet. Solidarität unter Kindern ist überhaupt Mangelware geworden, auch in der Schule. Wieviele Kinder haben einen eigenen Fernsehapparat im Zimmer und wenn sie älter sind den Computer! Das verringert die Kommunkation. Und dabei ist Gemeinschaftsfähigkeit etwas so wichtiges. Am besten wird sie in den Familien vorbereitet. Wichtig ist eine Gemeinschaft, die auch Tischkultur pflegt. Indem wir gemeinsam essen, nehmen wir ja nicht nur Nahrung zu uns. Wir sprechen miteinander, teilen das Brot, eine Voraussetzung zur Kommunikationsmöglichkeit. Daher rate ich, heute die Tischkultur nicht zu vernachlässigen. Miteinander zu essen, ist die beste Vorbereitung in bezug auf Rücksichtnahme. So entwickelt man auch ein Gespür für das Miteinander-Teilen und das Rücksichtnehmen.

Das Gespräch führte Christof Gaspari.

ZUR PERSON Autorin von 102 Büchern 1925 in Schleswig-Holstein geboren erlebte Christa Meves als Jugendliche hautnah die Schrecken des Krieges mit: Bombenangriffe, Arbeitsdienst, am Ende des Krieges sogar Fronteinsatz. Nach dem Krieg: Studium der Psychologie in Kiel und Hamburg. 1946 heiratet sie. 1949 kommt ihre erste Tochter, Antje, zur Welt, 1951 die zweite, Ulrike. Als ihre Töchter in die Schule kommen, macht Christa Meves eine Zusatzausbildung zur analytischen Kinder- und Jugendtherapeutin und beginnt mit ihrer Beratungstätigkeit. Außerdem ist sie als Sachverständige beim Jugendgericht tätig. Die Erfahrungen, die sie im Zuge dieser Tätigkeit mit den Nöten der Jugendlichen macht, sind Auslöser für ihre umfassende Vortrags- und Publikationstätigkeit (insgesamt 102 Bücher!), die sie im ganzen deutschen Sprachraum bekannt macht. Vor kurzem ist ihre Autobiographie: "Mein Leben" im Resch-Verlag erschienen.

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