Jenseits des Greifbaren

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Spekulanten der Theologie und der Finanzmärkte scheinen heute nicht gut angeschrieben zu sein. Und doch bewundern wir dieses Hinausgehen über materielle Dinge der Wirklichkeit.

"Aus materiellen Dingen nimmt man die Gelegenheit zur Spekulation des bloß Denkbaren.“ So könnte eine freundliche, akademisch klingende Zusammenfassung der postmodernen Finanzmärkte lauten. Das lateinische Originalzitat ist indes gut 1000 Jahre älter. Es entstammt der Feder des Philosophen und Theologen Johannes Scotus Eriugena (9. Jh.) und bezieht sich auf eine Form des Philosophierens. "Ex rebus materialibus speculationis intelligibilium occasio sumatur.“ "Die materiellen Dinge sind der Ausgang des konzentrierten Nachdenkens über bloß gedanklich Fassbares“ - die Spekulation ist eine Form der Gotteserkenntnis oder zumindest eine Vorform.

Spekulanten beider Professionen, der Finanzmärkte wie der Theologie, sind heute nicht gut angeschrieben, und zwar bei näherem Hinsehen aus eng verwandten Gründen. Völlig irreal, ja fast surreal muten Laien die Vorgänge rund um Swaps und Hedge-Fonds, Junk Bonds, Floater und Ratings an. Das Verschieben und Verschwinden von Milliardenbeträgen über den Globus mit den genannten und anderen Mitteln stellt in seiner völligen Abstraktheit für den postmodernen Menschen das würdige Äquivalent zu esse und essentia, Universalien und Realien der mittelalterlichen Theologie, dar. Beides ist fernab der Lebensrealität, eben bloße Spekulation - und dennoch gründen im jeweiligen Weltdeutungsmodell die Lebensrealitäten des einzelnen in diesen spekulativen Systemen: im Mittelalter in der Seinslehre und heute in der globalen Finanzwirtschaft.

Misstrauen und Abgrund

Wir misstrauen dieser wie jener Spekulation zutiefst. Sie führen uns beide die Begrenztheit unserer Erkenntnis, die Unmöglichkeit, als kleines Individuum das große Ganze zu erfassen, vor Augen, und die Verankerung unseres Daseins in einem so unsicheren (Ab)Grund, eben der bloßen Spekulation, macht uns Angst. Wir wollen kleine, greifbare Tatsachen und einfache Einbahnzusammenhänge, wir möchten die Dinge direkt erkennen, nicht bloß verrätselt im Spiegel, wie der Heilige Augustinus den lateinischen Begriff der speculatio erklärt. "Ich glaube nur, was ich sehe“, war lange das Credo der Alltagsatheisten, gewandt gegen eine spekulative Theologie, die meinte, von Gott durch abstrakte philosophische Begriffe reden zu können. "Ich glaube nur, was ich sehe“ hätten viele mittlerweile gerne als Leitspruch ihrer Banken, am besten in Form eines riesigen Geldspeichers à la Dagobert Duck. Angreifen statt spekulieren, harte Münze statt monetärer Ontologie. Vielleicht ist die Entstehung des modernen Finanzwesens aus dem Geist des Protestantismus ja der reformatorische Ersatz für die spekulative Theologie der mittelalterlichen Scholastik. Ein Blick in die Begriffsgeschichte der Spekulation legt dies nahe: Wo die Spekulation bei der Türe der Theologie hinausgeworfen wird, kommt sie beim Fenster der Finanzwelt wieder herein. So könnte man es katholisch boshaft formulieren, wissend, dass auch die papsttreuen Medici diese Wende vollzogen haben.

Die Faszination des gewagten geistigen Agierens weit über die greifbare Materie hinaus, des Spielens in einer Welt der Begriffe ohne reale Entsprechungen ist offenbar eine anthropologische Konstante. Zwischen mittelalterlicher Theologie und moderner Finanzwortschaft steht die neuzeitliche Philosophie des Idealismus. Wie Scotus Eriugena und Thomas von Aquin haben Schelling und Hegel keinen merkantilen Vorwand für ihren Spieltrieb, sondern sehen die Spekulation als qualitativ hochwertige Methode, deren Aufgabe es ist, "die Trennung in der Identität des Subjekts und Objekts aufzuheben“ und die "das Absolute“ zum Gegenstand hat. Die Spekulation dient zwar nicht mehr als vorbereitender Weg der Gotteserkenntnis, aber immerhin ist sie ein Weg über die kleinteilige Welt der Alltagspraxis hinaus, und verspricht den Eingeweihten eine Zusammenschau, wie sie bereits von den Naturwissenschaften des 19. Jahrhunderts massiv in Frage gestellt wurde. Das Absolute, das klingt nach Durch- und Überblick, und genau um diesen beneiden wir insgeheim die Spekulanten heute, bar aller vordergründig philosophischen Ziele, so sehr: Wer spekuliert, ob nun über die göttlichen Seinskategorien, das Absolute oder eben die globalen Finanzmärkte, sieht von einer erhöhten Warte aus Zusammenhänge, die wir Sterblichen aus der Froschperspektive nicht sehen. Damit sind wir wieder bei der ursprünglichen, philologischen Bedeutung des Wortes angekommen: speculari meint im säkularen Latein das Ausspähen von einem höher gelegenen Aussichtspunkt aus. Eben diese höhere Erkenntnis aufgrund der besonderen Perspektive schreiben wir den Spekulanten aller Zeiten zu, wir vertrauen darauf, dass sie den Überblick haben, ein Ganzes in dem Chaos des realen Lebens auszumachen vermögen und es für uns ordnen. Wehe aber, wenn nicht!

Chaos und Hauptsünden

Wehe, wenn die Frösche entdecken, dass die Vögel in Wahrheit genauso wenig sehen wie sie, ja schlimmer, dass sie unser schmutziges Chaos zu ebener Erde noch vergrößert haben mit ihren Lügen über absolute Gewissheiten, die bloß immaterielles Spielzeug in Form von Begriffen und Wahrscheinlichkeiten waren, Spekulationen eben. Dann wird der Metaphysiker zum Schimpfwort der reformatorischen Theologie und avanciert der Finanzspekulant zum Inbegriff des verantwortungslosen Größenwahns, beide schuldig der Todsünde des Hochmuts wie der Weltfremdheit gleichermaßen.

Konjunktur haben in solchen Phasen der Enttäuschung all jene, die den einfachen Überblick ohne Spekulation versprechen: Fundamentalisten aller Arten, denen jedes gewagte Denken ein Gräuel ist, Pragmatiker, die meinen, mit aufgekrempelten Ärmeln und einem Gang zum Baumarkt wäre alles zu sanieren, Weltuntergangspropheten, die das Absolute und das Ende der Geschichte aus der Spekulation ins Hier und Jetzt holen wollen und natürlich ein kuschelig individuelles Biedermeier, das allein den Gedanken an gewagte Blicke von exponierter Warte aus bedrohlich findet.

Ein gutes Wort für die Spekulation

Nein, die Autorin dieser Zeilen wird (leider) von keiner großen Finanzagentur dafür bezahlt, die Spekulanten von ihren Sünden reinzuwaschen. Und ja, es gibt zu denken, dass ein früher philosophisch-theologischer Begriff, mit dem man sich im Mittelalter Gott gedanklich zu nähern versuchte, heute nur mehr im Zusammenhang mit dem globalen Finanzmarkt gebraucht wird. Dennoch oder gerade deshalb möchte ich ein gutes Wort für die Spekulation einlegen: Die Sehnsucht nach gewagtem Denken über die primäre Notwendigkeit der Alltagsbewältigung hinaus zeichnet den Menschen ebenso aus wie seine Suche nach den ersten und zweiten Ursachen und Zusammenhängen dieses Alltags. Ab und zu die erhöhte Warte der Spekulation aufzusuchen, sollte gerade aus christlich-theologischer Sicht verpflichtend sein, auch, um von dort aus allzu schnelle und riskante Spekulanten in rebus materialibus (inklusive der Wissenschaften) zu erkennen. Man darf nur zwei Dinge nicht vergessen: Spekulation ist ein Erkennen im rätselhaft verzerrten Spiegel und nicht die Letzterklärung der Wirklichkeit. Und: Man sollte von der hohen Warte der Spekulation ab und zu wieder hinunter zu den anderen Fröschen, sonst holt einen irgendwann der Geier.

Die Autorin ist Studiendekanin der Katholisch-Theologischen Fakultät der Uni Graz

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