Jerusalem liegt mitten in Europa

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Fünfzig Jahre nach der Umarmung zwischen Papst Paul VI. und Patriarch Athenagoras hat Europa jede demonstrative Geschwisterlichkeit der Kirchenführer noch immer bitter nötig.

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Fünfzig Jahre nach der Umarmung zwischen Papst Paul VI. und Patriarch Athenagoras hat Europa jede demonstrative Geschwisterlichkeit der Kirchenführer noch immer bitter nötig.

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Sonntagabend im ORF-Zentrum. Papst Franziskus und Bartholomaios I., Patriarch von Konstantinopel, verspäteten sich mehr als eine Stunde zum gemeinsamen "Vater unser" in der Grabeskirche von Jerusalem. So blieb mir als Gastkommentator der Live-Übertragung viel Zeit, um tiefer als vermutet in die Geschichte und Gegenwart der beiden großen christlichen Kirchen und ihrer Suche nach Einheit einzudringen.

Im Nebenstudio lief zeitgleich der große EU-Wahlabend. Österreichs Spitzenpolitiker standen gestresst zum Schminken an und sonnten sich dann in gewohnter Distanz zu den wahren Ergebnissen - im Glanz ihrer "Siege".

Und wieder nebenan verfolgten die Außenpolitik-Spezialisten des Fernsehens gespannt die Ergebnisse der Präsidentenwahlen in der Ukraine.

Drei parallele Großereignisse mit vielen Schauplätzen -und doch letztlich eine Geschichte. Denn selbst die herzerwärmenden Worte und Liebesgesten der beiden Oberhirten des östlichen und westlichen Christentums konnten nicht darüber hinwegtäuschen: Die tausend Jahre alte Kluft zwischen "West-Rom" und "Ost-Rom", zwischen Katholizismus und Orthodoxie, ist trotz der beiden dialogsüchtigen Kirchenführer und enormer, jahrzehntelanger theologischer Mühen noch längst nicht geschlossen. Und sie liegt, wie uns eben das Drama der Ukraine zeigt, noch schwer über dem zusammenwachsenden Europa.

Von unterschiedlichen Kulturen und Feindbildern geprägt, ist der Argwohn der Völker gegen die jeweils "Anderen" eine tragische Grundlast dieses Kontinents. Sie ist im Osten - wo sich die Orthodoxie als "die eine und einzige Kirche Jesu Christi" versteht - noch deutlicher zu spüren als im zunehmend säkularen Westen.

Nicht überwundene Trennung

Eine Last, die sich am Selbstverständnis des römischen Papsttums und an innerorthodoxen Konflikten stets neu auflädt. Genährt vom Machtzuwachs der riesigen russischen Kirche, von der West-Ost-Zerrissenheit der ukrainischen Kirchen, aber auch von manchen Metropoliten und Mönchen, die in Katholiken nach wie vor Häretiker sehen, im Papst einen "satanischen Ketzer" und in seiner Wahl eine "jüdische Verschwörung".

Fünfzig Jahre nach der ersten Umarmung zwischen Papst Paul VI. und Patriarch Athenagoras, nach der Aufhebung des gegenseitigen Kirchenbanns von 1054 und allen ökumenischen Anstrengungen hat dieses Europa jede demonstrative Geschwisterlichkeit der christlichen Kirchenführer noch immer bitter nötig.

Kein anderer Platz symbolisiert ja die nicht überwundene Trennung stärker als gerade die Grabeskirche (für Orthodoxe die "Auferstehungskirche"), in der ausgerechnet muslimische Wächter seit Jahrhunderten die aggressive Eifersucht unter christlichen Konfessionen dämpfen müssen.

Es könnte also durchaus sein, dass die Begegnung in Jerusalem letztlich das längerfristig wichtigste europäische Ereignis dieses Sonntags war.

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