"Jetzt bist du eine Null ohne Zahl davor"

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Im Werk von William Shakespeare agieren viele Narren. Auch in seiner dunkelsten Tragödie, "King Lear", werden Lieder einer verkehrten Welt gesungen, wird der Sprache misstraut und ist der Wahnsinn hellsichtiger als die Vernunft.

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Im Werk von William Shakespeare agieren viele Narren. Auch in seiner dunkelsten Tragödie, "King Lear", werden Lieder einer verkehrten Welt gesungen, wird der Sprache misstraut und ist der Wahnsinn hellsichtiger als die Vernunft.

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Das Werk von Shakespeare, dessen Geburtstag sich heuer Ende April zum 450. Mal jährt, kennt einige Narren und noch mehr närrische Figuren. Was jene von diesen scheidet, ist nur der Beruf. In seiner dunkelsten Tragödie, dem "König Lear", kommt nicht nur eine der schillerndsten Narrenfiguren vor, sondern das Närrische ist auch eines der zentralsten Motive in dem Stück. Und Shakespeare zeigt, dass nicht derjenige der größte Narr ist, der von Berufs wegen Narr ist. Und weil die verkehrte Welt zum Narren gehört wie sein buntes Kostüm, ist es im "Lear" auch dem Narren vorbehalten, den König, in dessen Diensten er steht, einen Narren zu heißen.

Gespräch mit dem Narren

Lear: Nennst du mich Narr, Junge? / Narr: Alle deine andern Titel hast du weggeschenkt, mit diesem bist du geboren. / Kent: Darin ist er nicht so ganz Narr, Mylord. / Narr: Nein, mein Seel, Lords und andere große Herren würdens mir auch nicht ganz lassen; hätt ich ein Monopol darauf, sie müßten ihr Teil daran haben, und die Damen ebenso, die würden mir auch den Narren nicht allein lassen, sie würden was abhaben wollen. Gib mir ein Ei, Gevatter, ich will dir zwei Kronen geben. / Lear: Was für zwei Kronen werden das sein? / Narr: Nun, nachdem ich das Ei durchgeschnitten und das Inwendige herausgegessen habe, die beiden Kronen des Eis. Als du deine Krone mittendurch spaltetest und beide Hälften weggabst, da trugst du deinen Esel auf dem Rücken durch den Dreck; du hattest wenig Witz in deiner kahlen Krone, als du deine goldne wegschenktest. Wenn ich diesmal in meiner eignen Manier rede, so laß den peitschen, ders zuerst so findet.

Singt: Den Narrn blüht heuer wenig Glück, / Denn Weise wurden Laffen; / Mit ihrem Witz gings sehr zurück, / Benehmen sich wie Affen.

Lear: Seit wann bist du so reich an Liedern, he? / Narr: Das bin ich, Gevatter, seit du deine Töchter zu deinen Müttern gemacht hast; denn als du ihnen die Rute übergabst und dir selbst deine Hosen herunterzogst,

Da weinten sie aus freudgem Schreck, / Ich sang aus bitterm Gram, / Daß solch ein König Butzemann spielt' / Und zu den Narren kam.

Bitt dich, Gevatter, nimm einen Schulmeister an, der deinen Narren lügen lehre; ich möchte gern lügen lernen. / Lear: Wenn du lügst, Bursch, so werden wir dich peitschen lassen. / Narr: Mich wundert, wie du mit deinen Töchtern verwandt sein magst; sie wollen mich peitschen lassen, wenn ich die Wahrheit sage, du willst mich peitschen lassen, wenn ich lüge, und zuweilen werde ich gepeitscht, weil ichs Maul halte. Lieber wollt ich alles in der Welt sein, als ein Narr; und doch möchte ich nicht du sein, Gevatter. Du hast deinen Witz von beiden Seiten abgestutzt und nichts in der Mitte gelassen.

Närrisch ist schon Lears Frage, mit der die Tragödie ihren Anfang nimmt. Lear befragt seine Töchter nach dem Maß ihrer Liebe. Er weiß, was sie sagen werden, doch er will es öffentlich bekundet haben. Narr ist er nicht so sehr nur wegen der Frage, sondern vielmehr darum, weil er darauf nur eine sprachliche Antwort gelten lassen will. So ist er einerseits nicht imstande, die geheuchelten Lippenbekenntnisse der älteren Töchter als bloße Schmeichelei, als Wille zur Macht zu durchschauen, und andererseits ist er unfähig, das Schweigen, das kompromisslose "Nichts" seiner Lieblingstochter Cordelia anders als Trotz zu verstehen. Mehr noch: Denn als diese prompt verweigert, Zeichen der Sprache anstelle der wesenhaften Liebe zu setzen, ist Lear nicht fähig zu erkennen, dass ihr Wesen Cordelias Antwort auf diese Frage ist. Er merkt nicht, dass, wo keine Worte sind, auch Liebe ist, und wo ihm Liebe gesagt wird, er nur Worte bekommt. Und aus dieser semantischen Katastrophe folgen alle anderen.

Auch "König" ist nur ein Wort

Wie sehr er zum "wahren Narr seines Glücks" geworden ist, sieht er, als er das Land unter den beiden älteren Töchtern aufteilt, damit sein reales Königtum aufgibt und so auch seine Macht zerfällt. Jetzt muss er erfahren, dass wie "ich-liebe-dich" auch "König" nur ein Wort ist. Im Folgenden wird es die bohrende Frage des Königs Ohne-Land sein, wer er noch ist: "Wer hier denn kann mir sagen, wer ich bin?" Weil die Sinngebung der Welt keine sprachliche sein kann und auch die Wahrheit der Existenz jenseits des mit Worten Sagbaren liegt, antwortet ihm der Narr: "Jetzt bist du eine Null ohne Zahl davor. Ich bin jetzt mehr als du jetzt bist; ich bin ein Narr, du bist nichts."

Shakespeare zeigt im "Lear" eine Welt, in der althergebrachte, scheinbar ewige Ordnungen zerbrechen - kosmologische, politische, moralische wie auch natürliche und solche der Wahrnehmung - und er zeigt diese Unordnung nicht zuletzt als eine Konfusion der Wörter. Wo unehrliche Sprache zum guten wie zum bösen Zweck verwendet werden kann und umgekehrt ehrliche Sprache Maske des Bösen wie des Guten sein kann, wo Begriffe ambivalent werden, ihr Bezug zur sichtbaren Wirklichkeit reißt, weil jeder sie in einem anderen Sinn gebraucht und sie zu gezielter Täuschung einsetzt, zerbricht auch die Illusion, dass Wort und Tat, Anschein und Wirklichkeit noch eins sein müssen. So ist das große Thema der Tragödie die Verrätselung der Welt, die Shakespeare spiegelt als eine Unordnung von Ding und Zeichen, von Sein und Schein.

Der Narr heißt einfach nur Narr

Deshalb trägt der Narr keinen Namen, heißt der Narr nur einfach Narr. Man könnte sagen, die Beschränkung auf den performativen Namen verpflichtet ihn zum Närrisch-Sein. Andererseits ist er durch diese Namenlosigkeit ein Außenseiter, einer, der zwar dabei ist, aber nicht dazu gehört. Nur so darf er alles sagen, sich Frechheiten leisten, kann er gegen die guten Sitten verstoßen und Grundsätze der sozialen Ordnung in Frage stellen. Dabei betrachtet er die Wirklichkeit als eine, die sich der Sinngebung widersetzt. Er ist auch frei von Illusionen und sucht keinen Trost in der Existenz einer natürlichen oder auch übernatürlichen Ordnung, in der das Gute belohnt und das Böse bestraft würde.

Nicht nur singt er das Lied der verkehrten Welt, in der die Kinder den Vater beherrschen, der Diener den Herrn usw., sondern er ist auch derjenige, der der Sprache misstraut, obwohl sie zentrales Ausdrucksmittel seiner Unterhaltungskunst ist. Weil Sprache weder Wahrheit noch Sicherheit bietet, bedient er sich einer gleichsam verzerrten, besser: ver-rückten Sprache. Eine solchermaßen unsinnige, dafür aber vielleicht sinnlichere Sprache, voller Paradoxien, angefüllt mit absurdem Witz, assoziativen Sprüngen und rätselhaften Parabeln, scheint ihm taugliches Mittel, die Absurdität des Selbstverständlichen wie auch die des Absoluten zu sagen.

Die Sprache des Narren hat keine verborgene Bedeutung, sondern sie hat bloß eine Sinn-Reserve, die abschließenden Sinn stets zurück- und in der Schwebe hält. Sie besteht aus Worten, die nur ihre Sprache sagt, also streng genommen nichts sagt. In seiner Weltsicht sind die Grenzen zwischen Wahnsinn und Vernunft gleitend. Wo kalte Vernunft absurd wirkt, sich stets verrechnet, birgt Wahnsinn scharfe, unbewusste Einsichten. Nur dort, wo Sprache Unsinn wird, enthüllt sich Sinn, vermag sie bessere Einsicht in das Wesen der Dinge zu ermöglichen. Hier ist der Wahnsinn hellsichtiger als alle Vernunft.

Zerfall der Sprache

Shakespeare führt Lears Zusammenbruch auf verschiedenen Ebenen vor: Lear verliert nicht nur sein Reich, seine Krone, die Insignien seiner Macht und schließlich seine Kleider. Seine Identität löst sich auf, er durchlebt eine Metamorphose zum Narren und die ist bei Shakespeare vor allem ein sprachliches Ereignis. Das heißt, der Weg von einem sprachlogischen zu einem physisch kreatürlichen Erleben der Welt führt notwendigerweise über den Zerfall der Sprache.

Am Anfang begegnet uns der König als stets monologisierender Monarch. Seine majestätisch vorgetragene Redeweise ist die des knappen Befehlstons oder die des gestelzten Plurals: "Derweil erklären Wir unseren tiefern Plan, / Hört dass wir das Reich gedrittelt haben; [...] etc." Dann verschlägt ihm die veränderte Rede von Goneril buchstäblich die Sprache, klagende Verse mit zunehmend zerbrechender Syntax. In der Heideszene im dritten Akt ist das sprachliche Band zur Außenwelt endgültig gerissen. Hier vermittelt die Sprache weder Bedeutung noch Kontakt noch Erkenntnis. Seine parataktische Prosa besteht nur noch aus schwer zu dechiffrierenden Zeichen, Zeugnisse einer inneren Erfahrung.

In diesem Sinne ist der Narr das Alter Ego Lears, verkörpert er das Andere, das mit einer Sprache zum Menschen spricht, die von weit her kommt, nicht um ihm zu sagen, was er ist, sondern um ihn fühlen zu machen.

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