Julio Cortazar blieb immer im Konkreten verwurzelt

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Die Erzählungen des argentinischen Autors, dessen Wandel zum Kommunisten an manche seiner Geschichten erinnert, liegen zum erstenmal vollständig und chronologisch vor.

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Die Erzählungen des argentinischen Autors, dessen Wandel zum Kommunisten an manche seiner Geschichten erinnert, liegen zum erstenmal vollständig und chronologisch vor.

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Das Spiel sei, so Mario Vargas Llosa in seinem Vorwort zu den Erzählungen von Julio Cortazar, ein unerläßlicher Begriff, wenn man von den erzählerischen Fiktionen des Autors spreche. Es sei nicht nur eines der zentralen Themen seiner Werke, vielmehr sei für Cortazar "das Schreiben selbst spielen, sich amüsieren, das Leben - die Worte, die Ideen - mit der Willkür, der Freiheit, der Phantasie und der Verantwortungslosigkeit handhaben, wie es die Kinder tun" gewesen. Dieser Zugang kam besonders den Erzählungen des argentinischen Autors zugute. Mit dem Sammelband von Suhrkamp liegen sie jetzt zum erstenmal vollständig und in chronologischer Folge vor. Sie sind, mit Ausnahme von "Das andere Ufer", das der Autor zu Lebzeiten nicht veröffentlicht hat, nach dem Erscheinungsdatum der Originalausgaben angeordnet; die Originaltitel sind in Zwischentiteln erwähnt.

Die Bezeichnung des experimentellen Schriftstellers läßt sich vor allem auf Cortazars Romane anwenden, wo er gezielt die etablierten Normen der Erzählkunst und -struktur verletzt. Der Standpunkt des Erzählers, die Erzählzeit, die räumliche Organisation der Geschichte und die Psychologie der Figuren bekommen eine neue Bedeutung. "Rayuela" (so heißt das Hüpfspiel "Himmel und Hölle"), einer seiner berühmtesten Romane, hat drei Teile. Die ersten beiden bilden den eigentlichen Roman, für dessen Verständnis der dritte, aus hundert vom Autor als "abstreichbar" bezeichneten Kapiteln bestehende Teil, nicht notwendig ist. Er enthält Gedanken über Sprache und Dichtung, Tod und Unsterblichkeit, die Identität der Person, Traum und Wirklichkeit und vor allem auch über den Roman als literarische Gattung, dessen traditionelle Form der Argentinier verwirft.

Das "Leser-Weibchen", wie er den Normalleser nennt, mag auf den dritten Teil ruhig verzichten. Anspruchsvolleren wird geraten, die Lektüre der eigentlichen Handlung mittels des beiliegenden, detaillierten Leseplans durch die Lektüre einzelner Kapitel des dritten Teils zu unterbrechen, wodurch ein dem bekannten Hüpfspiel ähnliches Wechselspiel zustande kommt. Die beiden Lesemöglichkeiten entsprechen zwei Deutungsmöglichkeiten der Realität, einer oberflächlichen, konventionellen, wie sie im traditionellen Roman zur Geltung kommt, und einer anderen, neuen, die die herkömmlichen Sprach- und Darstellungsformen ablehnt und die verborgenen, der Logik und Psychologie widersprechenden Lebenszusammenhänge zu fassen sucht. In "Rayuela" verschwinden die Grenzen zwischen Unvernunft und Vernunft, Schlaf und Wachsein, Geschichte und Phantasie. Sie verschmelzen zu einer einzigen Wirklichkeit.

In vielen Geschichten gehen Scherz und Salonzauberei unmerklich in einen Abstieg in den dunklen Grund des menschlichen Verhaltens, in eine tiefe Schicht der menschlichen Erfahrung unterhalb der rationalen Zivilisation über, so auch in "Die Nacht auf dem Rücken". Die Erzählung beschreibt den Motorradunfall eines Mannes, für den der Traum von einer Menschenjagd der Azteken Wahrheit wird: "Da war seine letzte Hoffnung, daß er die Augenlider fest zusammenkniff und stöhnte, um wach zu werden. Eine Sekunde lang glaubte er, es würde ihm gelingen, denn abermals lag er unbeweglich im Bett, abgesehen von dem Kopf, der nach unten hing und schwankte. Aber er roch den Tod, und als er die Augen öffnete, sah er die blutbefleckte Gestalt des Opferpriesters, der mit dem Messer aus Stein in der Hand auf ihn zukam. Es gelang ihm, abermals die Lider zu schließen, obwohl er nun wußte, daß er nicht mehr erwachen würde, daß er wach war, daß der wunderbare Traum der andere gewesen war, absurd wie alle Träume; ein Traum, in welchem er über sonderbare Avenuen einer Stadt gefahren war, mit grünen und roten Lichtern, die ohne Flammen und Rauch brannten, mit einem gewaltigen Metallinsekt, das unter seinen Beinen summte."

Cortazar war ein Liebhaber der phantastischen Literatur und schrieb einige Erzählungen dieses Typs. "Axolotl" schildert die Verwandlung eines Menschen in ein Wassertier, in den "Mänaden" endet die Begeisterung eines Konzertpublikums mit dem Massaker des Dirigenten und des Orchesters. Die Geschichten sind oft Symbiose von Realität und Phantasie, die letztere als Zufallsergebnis scheinen läßt, das einen großen Reiz darstellt. Was ihn von Autoren wie Poe, Kafka oder seinem Vorbild Borges unterscheidet, ist, daß selbst die wissensreichsten und elaboriertesten Geschichten nie ins Abstrakte abgleiten, sondern im Alltäglichen und Konkreten verwurzelt bleiben.

Der argentinische Autor machte mit über 50 Jahren einen Wandel durch, der an manche seiner Geschichten erinnert. Aus einem apolitischen Menschen wurde ein Kommunist, dessen Werk mit seinem bisherigen wenig zu tun hatte. "Obwohl ich glaube, daß er sich oft geirrt hat", so Llosa über den zweiten Teil von Cortazars Leben, "... wie jenes Mal, als er behauptete, sämtliche Verbrechen des Stalinismus seien ein bloßer accident de parcours des Kommunismus gewesen -, lag sogar in diesen Irrtümern eine so deutliche Unschuld und Naivität, daß es schwer war, den Respekt vor ihm zu verlieren."

DIE ERZÄHLUNGEN Von Julio Cortazar Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 1998 1.312 Seiten, kt., öS 934,-/e 67,87 Taschenbuch 4 Bde., öS 496,-/e 36,04

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