JUNGE MÄRCHEN, QUER UND QUEER

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KLISCHEE WAR EINMAL, DIE NEUEN MÄRCHENFIGUREN SIND ANDERS UND FÜHREN ZU SELBSTKONFRONTATION.

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KLISCHEE WAR EINMAL, DIE NEUEN MÄRCHENFIGUREN SIND ANDERS UND FÜHREN ZU SELBSTKONFRONTATION.

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Susan Kreller hat es getan. Cees Noteboom hat es getan. Wolfgang und Heike Hohlbein haben es getan. Sie haben sich der Macht der Schneekönigin gestellt und das Märchen entweder erzählerisch neu interpretiert oder dessen Motive in ihre Romankompositionen einfließen lassen. Sie haben das Motiv des Erkaltens in den Mittelpunkt gestellt, haben Vorstädte, Gebirgszüge oder gleich ganze fantastische Welten einfrieren lassen, um ihre Figuren im Zusammenspiel von Wettermetaphorik und emotionaler Kälte den Zumutungen des Lebens an sich auszusetzen. Und so wie sich die Versatzstücke von Hans Christian Andersen durch alle literarischen Genres ziehen, so setzen sie sich auch in der medialen Welt fest: Die Fernsehserie "Once upon a time" kennt - natürlich - die Figur der Schneekönigin, das Universum des Animationsfilms hat mehrfach auf das winterliche Figureninventar zurückgegriffen, und der tapfere Huntsman, der zuletzt Snow White actionreich in Sicherheit gebracht hat, wird ihr demnächst in "Winter's Tale" begegnen.

Neue Lust am Märchen

Neben der kleinen Meerjungfrau zählt die Schneekönigin zu den meist zitierten und neu inszenierten Märchenfiguren Andersens - und reiht sich so in eine kaum überblickbare Fülle an Neuausgaben sowie Nach- und Neuerzählungen des ungebrochen begehrten Märchengutes der Romantik. Wobei die Märchen und Figuren der deutschen Brüder Grimm jene des Märchendichters aus Dänemark bei Weitem überflügeln, wenn es um Neu-Inszenierungen aller Art geht. Gerade das 200-Jahr-Jubiläum der Erstausgabe der "Kinder- und Hausmärchen" hat 2012 zu einer (vom Markt befeuerten) neuen Lust an der Märchenrezeption geführt, deren Anliegen es war, einer Ver-Disneysierung der Märchen innovative illustratorische und erzählerische Varianten gegenüberzustellen und den etablierten Märchenkanon neu zu befragen. Die Tradition des Anti-Märchens der 1970er-Jahre zeigt sich dabei ebenso überwunden wie der Wunsch nach Adäquatheit der Märchen für ein kindliches Publikum, das vor Grausamkeiten aller Art bewahrt werden soll.

Hat Janosch noch zu Beginn der 1990er-Jahre die Radikalisierung der Märchenfiguren der Brüder Grimm durch Rollentausch und das Naheverhältnis von Sexualität und Gewalt vorangetrieben, so lässt sich eine humorvolle Neuschaffung der Märchen heute weit entspannter mit zeitgemäßen Diversitätskonzepten verbinden: "Wer fürchtet sich vorm lila Lachs?", fragen Elisabeth Steinkellner und Michael Roher in ihrem "Märchenbuch" und lesen Märchen dafür in vielerlei Hinsicht quer und queer. Bevor die Märchenfiguren am Ende den Aufstand gegen das Klischee proben und das Märchenbuch kollektiv verlassen, ziehen sie variantenreich aus, um die Leserinnen und Leser einen neuen Blick auf Rollenzuschreibungen zu lehren. Da suchen zum Beispiel sieben Greislein nach einer sympathischen Haushaltshilfe für ihre WG - denn die einst kraftstrotzenden Burschen sind ein wenig schwächer und hilfsbedürftiger als einst. Mit den jungen Barbie-Wesen und mütterlichen Matronen jedoch kommen die Herren nicht zurecht. Entspannung ins Betreuungschaos bringt erst ein muskelbepackter, tätowierter Typ namens Wolf. Glücklich und zufrieden leben die Greislein von da an und "wurden unter Wolfs liebevoller Betreuung allesamt 130 Jahre alt".

Das junge österreichische Künstlerpaar bezieht in seine Erprobung der unterschiedlichen kinder- und jugendliterarischen Spielformen - vom Bilderbuch über die Lyrik bis zum Adoleszenzroman - also auch das Märchen mit ein. Die Grundkonstellationen des Märchens behalten sie bei und erzählen ausgehend von Mangelsituationen über die Bewährung bis hin zum (unendlich) glücklichen Ende. Zumeist. Denn sie erproben auch metatextuelle Formen wie einen Prinzessinnen-Kodex, auf Grund dessen "weltweit viele auf ihr Prinzessinnen-Dasein pfiffen und einem Undercoverleben als Revolverheldinnen (ohne Schlossgemach und rosa gerüschten Vorhängen) frönten"; oder erzählen zwischendurch einfach (k)ein Märchen: "Keine Hexe tauchte auf, keine neidische Schwiegermutter und keine böse Fee." Dafür ein rosa Wackelpudding. Der zu einer neuen Märchenkonstante wird, wenn Sinnentleerung und neue Sinngebung zu Sujets führen, in denen ein Neu-Arrangement von Märchenfiguren und Motiven in ganz alltäglichen und ganz und gar nicht mythologisch aufgeladenen Kontexten stattfindet.

Den sozusagen umgekehrten erzählerischen Weg wählt Barbara Schinko in ihrem Roman "Schneeflockensommer", der im Mai mit dem Österreichischen Kinder-und Jugendbuchpreis 2016 ausgezeichnet wird. Ihre Protagonistin ist in mehrfacher Hinsicht in einem Dazwischen verortet: Marie steht an der Schwelle zwischen Kindheit und Erwachsenwerden, als sie scheinbar aus Raum und Zeit fällt.

Der Roman folgt dem Mädchen auf einer von Hunger und dem Verlust von Zugehörigkeit geprägten Flucht, die das Mädchen in einer Scheune im Wald Schutz suchen lässt. Die Scheune gehört Berta, einer ruppigen Außenseiterin, die auf einer bewaldeten Anhöhe über einem Dorf lebt und Ziegen hält. Sie nährt Marie mit Haferbrei, der nicht auszugehen scheint, und lässt das Mädchen als Gegenleistung für Essen und Obhut harte Arbeit erledigen. Erst nach und nach wird vor diesem Hintergrund deutlich, dass es sich bei Marie um eine traumatisierte, schuldbehaftete Ausreißerin handelt.

Schmerzvoll und heilsam

Durch die sprachliche Aufladung des Textes mit Märchenanleihen jedoch gerät Marie in eine Zwischenwelt, in der sie zur ebenso schmerzvollen wie heilsamen Selbstkonfrontation gezwungen wird. Dabei wird einerseits die emotionslose Direktheit von Figuren der Volksmärchen auf Berta übertragen; andererseits aber werden mit Hilfe des märchenhaften Sprachcodex jene Vorurteile offen gelegt, die Berta aus der Sicht der Dorfbewohner als suspekte Außenseiterin brandmarkt. Gekonnt changiert Barbara Schinko dabei zwischen den Motiven der Märchenhexe und den frauenfeindlichen Markierungen, die aus Bertas undurchschaubaren, abseitigen Leben erwachsen. Für Marie selbst wird Berta zum Ankerpunkt in einer vielschichtigen (emotionalen) Bewährungsprobe, die sie immer tiefer in den märchen-und sagenhaft aufgeladenen Wald hineinführt.

Den Weg hinaus schafft Marie durch einen Befreiungsschlag. Die märchenhaften Kategorien von Gut und Böse gehen über in schmerzliche Wahrheiten, die formuliert werden können, weil Marie nicht aus einem neu erworbenen Gefühl der Zugehörigkeit herausfällt. Die Schneeflocken, die sie immer wieder umschwirren, werden nicht auf die Eiskönigin, sondern auf Frau Holle zurückgeführt. In ihnen verdichtet sich also nicht nur das Motiv der Kälte und Erstarrung, sondern letztlich auch jenes der Befriedung.

Wer fürchtet sich vorm lila Lachs?

Von Elisabeth Steinkellner. Illustr. von Michael Rohrer Luftschacht 2013 168 S., geb., € 17,90

Schneeflockensommer

Von Barbara Schinko Tyrolia 2015 160 S., geb., € 14,95 Österreichischer Kinder- und Jugendbuchpreis 2016

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