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NADINE KEGELE PROTOKOLLIERT IN "LIEBEN MUSS MAN UNFRISIERT" GESPRÄCHE MIT FRAUEN UND TRANSGENDER.

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NADINE KEGELE PROTOKOLLIERT IN "LIEBEN MUSS MAN UNFRISIERT" GESPRÄCHE MIT FRAUEN UND TRANSGENDER.

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"Wir sitzen in deinem Garten. Nadine, 36. Maxie, 84. Zwischen uns ein auf den Kopf gestellter Karton, der als Tisch für mein Aufnahmegerät dient." Ein fiktives Gespräch zwischen Nadine Kegele (großes Bild oben) und der 1977 verstorbenen Schriftstellerin Maxie Wander (kleines Bild) im Garten in Kleinmachnow am Rande Berlins, damals noch DDR, eröffnet einen Band, der rund vier Jahrzehnte später wieder Gesprächsprotokolle von Frauen versammelt.

Kultbuch als Vorbild

"Guten Morgen, du Schöne" wurde zu einem Kultbuch, weil Maxie Wander den Frauen eine Stimme gab, weil sie ihnen zuhörte und neugierig darauf war, wie sie Geschichte erlebten und erzählten. In ihrem Vorwort schrieb Christa Wolf: "Dies ist ein Buch, dem jeder sich selbst hinzufügt. Beim Lesen schon beginnt die Selbstbefragung." Schon Christa Wolf war sich zwar sicher, dass dies für Leserinnen gilt, aber weniger sicher, dass es auch für Leser zutrifft.

Zu wünschen wäre, dass diese Selbstbefragung bei der Lektüre von Nadine Kegeles Buch "Lieben muss man unfrisiert" bei Frauen und Männern ausgelöst wird und bei jenen, die ihre Geschlechtszugehörigkeit gar nicht so eindeutig festlegen können und möchten.

Denn zu Wort kommen in diesem Buch auch jene, die sich als Transgender geoutet haben, wie die 45-jährige Helen, Informatikerin, die in Berlin lebt und sich als Feministin versteht: "Ich bin quasi von Cis, männlich, heterosexuell zu trans*, weiblich, homosexuell gewechselt. Ich hab nämlich 'nen Dickkopf, weißte. Ich kann nicht ein Leben leben, das falsch ist." Sie trägt Frauenkleider, nur ihre Stimme ist zu tief, aber sie steht dazu: "Ich muss mich nicht in diese Rolle einpassen! Ich hab verdammt noch mal das Recht, anerkannt zu werden, so wie ich bin!"

Schon früh hat Frana, 36, aufgewachsen in einem Berliner DDR-Plattenbau, gewusst, dass sie "die normativen Vorstellungen von Gender nicht im erwarteten Sinne erfüllen können werde", auch wenn sie damals nichts von Gender wusste. Sie/Er verortet sich als genderneutral, was im Alltag jedoch schwierig zu leben ist, wie sie/er am Beispiel der Toiletten verdeutlicht, denn genderneutral sind meist nur die Toiletten für Rollstuhlfahrer: "Auf dem Männerklo fragen sie mich, ob ich falsch sei", auf dem Frauenklo "heißt es öfter: Raus hier!" Auch sprachlich ist es für trans*Personen schwierig, noch schwerer allerdings wiegen die Gewalterfahrungen und irritierten Blicke, die man ständig aushalten muss, auch wenn man in Berlin "ein relativ entspanntes Leben" führen kann, nicht täglich um sein Leben fürchten muss wie anderswo.

Vom Kampf um Identität, der schwierigen Beziehung zum eigenen Körper, zu eigenen Lebensentwürfen, aber auch vom Widerstand gegen stereotype Frauenbilder erzählen viele der ebenso klugen wie witzigen Monologe. Ausgerüstet mit Fragebogen und Tonband besucht Nadine Kegele neunzehn Frauen und Transgender zwischen sechzehn und zweiundneunzig Jahren, die in Chicago, Madrid, Wien und Berlin leben, und bekennt eingangs: "Niemand hat mir die Tür vor der Nase zugeschlagen."

Bunt gemischt sind die beruflichen und privaten Lebensräume, von der Reinigungsfachkraft Michaela, 48, bis zur Modedesignerin Reem, 46, von der kinderlosen Singlefrau Ingrid, 60, bis zu den beiden Schülerinnen Hillary, 16, und Barbara 17. Nadine Kegele stellt Fragen nach ihrer Kindheit, ihren Eltern, ihrer Herkunft, auch Themen wie Aufklärung, Menstruation und Sexualität wiederholen sich. Die Autorin nimmt sich zurück, ihre Fragen tauchen in den Texten nicht auf, sie sucht das jeweilige mündliche Sprechen im O-Ton zu belassen, wählt aus, setzt neu zusammen. Die Filmemacherin Ona, 37, stellt treffend fest: "Dieses Buch ist dein erster Dokumentarfilm."

Immer "die Andere" sein

So vielfältig die Lebensläufe der Frauen und Transgender sind, so konstant sind die Auseinandersetzungen mit den Geschlechterrollen und die Erfahrungen von Diskriminierung, Gewalt und Übergriffen. Davon erzählen unter anderen Esther, 49, Spastikerin, Tänzerin und Mutter, Elena, 38, Unternehmerin, und Flora, 51, Wissenschaftlerin und Selbstverteidigungstrainerin. Ganz besonders betroffen sind Frauen mit Migrationserfahrung von Diskriminierung, die auch rassistisch motiviert ist. Nehir, 28, die in Österreich geboren ist, erzählt von ihrem ersten Kanaken-Erlebnis als Sechsjährige und vielen, die danach noch folgen: "Ich wurde politisch gemacht, weil ich zur Türkin gemacht wurde." Nehir hat es satt, immer kämpfen zu müssen und sich gegen die Zuschreibung als "die Andere" zu wehren: "Ja, du hörst richtig, da ist Wut in mir, da ist sogar viel Wut in mir." Auch die Bibliothekarin Greta, 42, klagt: "Ich muss kämpfen, ich muss ständig kämpfen."

Rechte, nicht Geschenke

In ihrem Vorwort hält Marlene Streeruwitz fest, dass fast in jedem Interview von Schutzmaßnahmen für sich selbst die Rede ist. "Die Genderfreiheiten werden wohl mehr als Geschenke angesehen und nicht als Rechte. Das ist kein Wunder. Denn. Kulturell hat sich ja keine Geschichtsschreibung herstellen lassen, die alle Geschlechter unabgeleitet, also autonom, zur Erscheinung brächte."

Deshalb ist ein Buch wie "Lieben muss man unfrisiert" ein so notwendiges Buch, dem man viel Gehör wünscht. Denn die Protokolle von Nadine Kegele zeigen auf beeindruckende Weise, dass Selbstvergewisserung einsetzt, wenn gesprochen wird: "Ich sage es hier auf Tonband, damit alle mich hören können."

Das letzte Wort im Buch hat Maxie Wander mit einem Wunschsatz für eine Zukunft, in der auch die Geschlechterfrage neu zu verhandeln wäre: "Man müsste über alles reden können."

Lieben muss man unfrisiert

Protokolle nach Tonband

Von Nadine Kegele

Kremayr & Scheriau 2017.352 S., geb., € 22,90

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