Kaltes Licht, kaltes Herz

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Der Tod des Museums: Wie Kunstkonsum und Kunstgeschichte das Kunsterleben vernichten.

Manchmal trifft ein Bild wie ein Blitz, lässt lebenslang Spuren zurück. Antonellos "Toter Christus von einem Engel gestützt", im Prado, mitten in einem Saal, auf einer Staffelei. Herausgehoben aus der Masse der Bilder. Das genügt. Keine Menschen mehr ringsum, keine anderen Bilder, nichts. Nur dieser ausgeschöpfte Leichnam vor einem leuchtenden Frühlingshimmel.

Es gibt heiße Kunsterlebnisse und kalte. Kalt war eine heiß ersehnte und sorgfältig vorbereitete Begegnung mit Caspar David Friedrichs "Kreuz im Gebirge", einem Hauptwerk deutscher Romantik in Dresden. Doch dann, vor dem Bild: zuerst eine unruhige Schar Halbwüchsiger, danach macht sich eine Seniorenrunde auf ihren Klappsesseln breit, schließlich eine Gruppe japanischer Touristen. Endlich allein davor. Aber kein erhebendes Gefühl. Keine der vielen angelesenen Interpretationen kommt zu Hilfe. Das Bild ist kleiner als erwartet und hinter Glas. Kein Funke springt über.

Kunstraub durch Kunstkonsum

Zufällig und völlig unvorbereitet waren wir zuvor in Gerhard Richters Stammheimzyklus "18. Oktober 1977" geraten, fünfzehn grauschwarz verschwommene Bilder über ein dunkles Ereignis der jüngeren deutschen Geschichte. Etwas wie Beklemmung lässt sich so schnell nicht aus dem Kopf treiben, nicht von Caspar David Friedrich und nicht von den Alten Meistern Raffael, Giorgione, Correggio und den vielen anderen in Dresden, in einer der schönsten Kunstsammlungen der Welt.

Trost bei Malern findet man nicht im Museum. Da sind einfach zu viele ihresgleichen, zu viele Bilder und meist auch zu viele Menschen, die - nach Thomas Bernhard - nur ins Museum gehen, "weil ihnen gesagt worden ist, daß es ein Kulturmensch aufzusuchen hat".

Lange vor der Inbetriebnahme der Museums-Marketing-Maschinerien mit ihrem Quotenwahn geißelten Kulturkritiker und Künstler die Geistlosigkeit, wenn die große Menge, die durch die Säle schlendert, die Bilder "nett" oder "großartig" findet. Denn "der, der hören könnte, hat nichts gehört", so Kandinsky in seiner Schrift "Über das Geistige in der Kunst". Heftig beklagt er "dieses Vernichten der innerlichen Klänge, die der Farben Leben sind ..." Achtzig Jahre nach Kandinsky diagnostiziert der Kunst-und Medientheoretiker Peter Weibel 1994 bei den Museen eine unselige Kumpanei mit der Event-und Tourismusindustrie; als Teil derselben vermittelten sie "pflegeleichte Bildungserlebnisse" und raubten den Kunstwerken dabei alles Potenzial: die Autonomie, die Distanz, die Kritik. Und die Aura.

Bereits 1928 wurde die durchschnittliche Betrachtungszeit einzelner Bilder in Museen und Ausstellungen erhoben, es waren zwölf Sekunden. Und heute? Ekkehard Mai, ein Kunsthistoriker mit langjähriger eigener aktiver Museumserfahrung, beklagt, dass Kunst, die oft in Tausenden von Stunden entstanden ist, eine Angelegenheit von wenigen Momenten wird: "Kultur-und Medienindustrie mit ihren Möglichkeiten rauben dem Traditionsmuseum das, wovon es ganz wörtlich lebt: die Schau." Wer ehrlich und ernsthaft darüber nachdenkt, dem müssen an Aktionen wie der "Langen Nacht der Museen" erhebliche Zweifel kommen, so sehr auch Politik und Presse dafür applaudieren.

Bedroht ist das Geheimnis der Bilder. Doch sie setzen sich jedem zur Wehr, der es ihnen in gnadenlos kaltem Licht abfordern will. Sie verweigern in der Nähe, was sie nur im Dämmer gehöriger Ferne zu sagen bereit sind. Darum gelingen Gespräche mit Bildern oft so gut "in situ", dort, wofür sie geschaffen wurden. Denn alles in der Welt, sagt Augustinus, ist an seinem Platze gut.

Bedroht ist das Geheimnis der Bilder aber auch von einer rigiden und frigiden Kunstwissenschaft, die sich mit Verachtung von allem abwendet, was mit Empathie, mit Berührung, mit Verzauberung und mit Liebe zu den Bildern zu tun hat. Zu oft ist sie das kalte Licht, in dem sich Venus - so Paul Valery - "in ein kunstgeschichtliches Dokument verwandelt." Denn in Sachen der Kunst wäre das Fachwissen eine Niederlage, es erkläre nur das, was nicht den Reiz der Kunst ausmacht, und vertiefe, was nicht wesentlich ist. Noch deutlicher ist Thomas Bernhard in seiner Komödie "Alte Meister", wo er die Kunsthistoriker "Kunsttöter" nennt, deren Geschwätz allem und allen die Kunst austreibe, wo sie auftreten, "wird die Kunst vernichtet, das ist die Wahrheit".

Das Geheimnis der Bilder

Vor zwei Jahren hat James Elkins, Kunstprofessor in Chicago, unter dem Titel "Pictures & Tears" Rückmeldungen einer Umfrage veröffentlicht, bei der er Kunstfreunde, Experten wie Laien, gefragt hatte, wann sie zuletzt vor einem Kunstwerk geweint hätten. Unter den vierhundert Antworten befanden sich viele zutiefst berührende Bekenntnisse - und ebenso viele rationalisierende Verweigerungen. Letztere in der Mehrzahl von Kunsthistorikern. Sie verweigerten sich, als müssten sie ständig ihren Status als objektive Wissenschafter unter Beweis stellen, der Gefühle nicht zulässt. Elkins' Kollege Robert Rosenblum schrieb zurück: "Ich fürchte, wir Kunsthistoriker tragen zu viele Panzer!" Und haben ein lebendiges gegen ein kaltes Herz eingetauscht. Denn insgeheim wissen sie von der unberechenbaren Kraft der Bilder, die oft fast physisch zu spüren ist.

Elkins hat die neutralisierende Wirkung kunstgeschichtlicher Expertisen selbst erfahren. Jahrelang besuchte er Bellinis "Ekstase des heiligen Franziskus" in der Frick Collection in New York. Er fühlte sich zuhause in der Wärme dieses Wunders. Solange, bis er eine umfassende Analyse dieses Gemäldes las. Von nun an wusste er alles über das Bild - und empfand nichts mehr davor. Die "Giftquelle Kunstgeschichte" (Elkins) hatte seinen Zauber aufgelöst.

Als sich der Maler und Reiseschriftsteller Eugène Fromentin vor hundertdreißig Jahren anschickte, an Ort und Stelle Werke von Rembrandt zu studieren, schrieb er: "Ich habe Angst um ihn und Angst um mich." Angst vor Bildern, das müsste man wieder lernen!

Was aber ist es, was Menschen überfällt, wenn ihnen Kunstwerke immer noch nahegehen, mitunter sogar so nahe, dass sie weinen möchten? Weit davon entfernt, sich als religiös zu verstehen, findet James Elkins in letzter Konsequenz dafür den Begriff "presence", Gegenwart. Jede tiefere Erfahrung mit Kunst ist für Elkins unzweifelhaft eine religiöse Erfahrung. Bevor sich die Wege von Kunst und Religion getrennt haben, wird "presence" wohl immer die Gegenwart Gottes gewesen sein. Oder, anders gesagt, die Spürbarkeit von "grace", Gnade. Aber "Gott" und "Gnade" sind Begriffe, die der Kunstgeschichte seit jeher fremd sind. Was uns weinen macht, ist diese Erfahrung von "presence" und "grace", nicht nur in der religiösen Kunst. Auch das Gegenteil davon kann uns zu Tränen rühren, wenn wir sie zulassen: die Empfindung von "painful absence", von schmerzender Abwesenheit des Göttlichen. Seit Caspar David Friedrich bleiben Abwesenheiten die wichtigsten Anstöße und Inhalte der modernen Malerei. Gerhard Richters Stammheim-Bilder, zum Beispiel, sind "gnadenlos".

Ahnung von Gegenwart

Nach Thomas Bernhard geht der echte Kunstliebhaber ins Museum, um sich ein einziges Bild anzuschauen. Dies könnten ihm die Museen erleichtern, wenn sie ständig ein kleines Refugium für "Kunstandächtige" bereithielten, abgeschirmt vom Museumstrubel. Dort könnte man an einem einzigen Bild wieder Hören und Sehen lernen.

Aber auch in den großen Sälen kann man die eigene Urteilsfähigkeit üben. Man lasse den Kunstführer in der Tasche und den Audioguide am Desk, man traue dem, was einen anspricht, zweifle nicht an den eigenen Gefühlen und stürze sich nicht auf die ohnehin meist mangelhaften Beschriftungen. Man gehe nicht ins Museum, um sich zu bilden - dafür eignen sich Bücher besser. Man gehe - ganz antiquiert! - ins Museum, um ein besserer Mensch zu werden. Rilke hat bekanntlich im Frühsommer des Jahres 1908 im Saal 3 des Souterrains im Louvre angesichts der vollkommenen Schönheit des Apollinischen Torsos von Milet geschrieben: "Du musst dein Leben ändern."

Der Autor ist freier Publizist.

Aus folgenden Büchern wurde zitiert:

Thomas Bernhard: Alte Meister, Frankfurt a. M. 1985

Kandinsky: Über das Geistige in der Kunst, München 1912

Ekkehard Mai (Hg.): Die Zukunft der Alten Meister, Köln/Weimar/Wien 2001

James Elkins: Pictures & Tears, New York 2004

Eugène Fromentin: Die Alten Meister, Köln 1998

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