Kassel nicht nur für Insider

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Die Documenta 12 bricht mit dem eurozentrischen Blick auf die Gegenwartskunst.

Nachkriegsarchitektur und Kleinstadtflair. Vier Jahre lang ruht Kassel im Dornröschenschlaf. Auch wenn die einst so prunkvolle Residenzstadt an der Fulda, die im Zweiten Weltkrieg großteils zerbombt wurde, einiges zu bieten hat: traumhafte Parks und Schlossanlagen - vor allem eine hochkarätige Kunstsammlung Alter Meister auf Schloss Wilhelmshöhe. Alle fünf Jahre wird Kassel wach geküsst - nämlich dann, wenn die bedeutendste Ausstellung zeitgenössischer Kunst für 100 Tage Besucher aus aller Welt anlockt.

Begonnen hat alles 1955, als Arnold Bohde beschloss, die von den Nationalsozialisten als "entartet" verdammte abstrakte Kunst der Öffentlichkeit zu präsentieren. Die Ausstellung war ein sensationeller Erfolg und lockte 130.000 Besucher nach Kassel. Seit damals schreibt die Documenta, die zunächst alle vier Jahre, später alle fünf Jahre stattfand, Kunstgeschichte. An der Großschau zeitgenössischer Kunst lasse sich der momentane Status Quo des aktuellen Kunstgeschehens ablesen, so der einhellige Tenor.

Barometer aktueller Kunst

Eng verbunden mit den jeweils neuen Sichtweisen, die eine Documenta mit sich bringt, sind die Kritik an der Künstlerauswahl und der Schwerpunktsetzung des jeweiligen Kurators. So sorgte etwa Harald Szeemanns Documenta 5 im Jahr 1972 für große Aufregung, da sie damals neueste Kunsttrends wie Konzeptkunst, Fotorealismus, Performancekunst, aber auch Gebrauchsgegenstände, Alltagskunst, Werbung und Kitsch in die Megaschau integrierte. Retrospektiv wurde die damals so heftig kritisierte Schau allerdings zu der Documenta schlechthin erklärt.

Nicht minder kontrovers diskutiert wurde Manfred Schneckenburgers Mediendocumenta im Jahr 1977 - nicht nur weil sie den "Neuen Medien" großen Platz einräumte, sondern weil sie Kunst aus der DDR erstmals miteinbezog. Die Reaktion: Westdeutsche Künstler wie Markus Lüpertz sagten ihre Teilnahme ab.

Auch die Documenta 12 reiht sich in diese Tradition ein. Weil Leiter Roger M. Buergel und seine Ehefrau und Documenta-Kuratorin Ruth Noack den Kunstmarkt bis zum Schluss im Dunkeln tappen ließen und die Künstler- und Künstlerinnenliste streng unter Verschluss hielten. Weil sich das französische Architektenpaar Anne Lacaton & Jean-Phillippe Vassal von der Realisation ihres für diese Documenta entworfenen, 10.000 Quadratmeter Ausstellungsfläche umfassenden, Aue-Pavillons distanzierte. Und weil durchsickerte, dass diese Documenta nicht nur Gegenwartskunst ausstellen werde.

Die Rolle der Kuratoren

Statt mit großen Namen im Vorfeld aufzutrumpfen, haben die Wahl-Wiener Buergel und Noack drei leitmotivische Fragen für die Documenta 12 in der Öffentlichkeit kolportiert. "Ist die Moderne unsere Antike? Was ist das bloße Leben? Was tun?" Neben der "Beantwortung" dieser drei Fragen soll es in der Ausstellung um die "Migration der Form" - vor allem aber um "ästhetische Erfahrung" gehen - so die beiden.

Voller Erwartung, wie diese hochgesteckten Ziele in einer Kunstschau zur Sprache kommen sollen, erreicht man also Kassel. Schon am Weg zum Friedericianum, dem historisch ältesten Ausstellungsort der Documenta vermeint man einem Kunstprojekt zu begegnen: eine Gruppe von Chinesen steht vor einem Parfümerie-Großmarkt und betrachtet die zahlreichen Flakons. Handelt es sich bei der Gruppe um jene 1001 Chinesen, die noch nie zuvor im Ausland waren und die der in Peking geborene Künstlerstar Ai Weiwei für einige Wochen anstelle eines Werks nach Kassel eingeflogen hat? Ai Weiwei interessiert der kulturelle Austausch - die chinesischen Gäste sollen mit der internationalen Kunstwelt konfrontiert werden und ihre Eindrücke von Kassel festhalten. Ai Weiweis Projekt, bei dem es um Horizonterweiterung und Standpunktwechsel geht, steht exemplarisch für diese Documenta.

Man kann Buergel und Noack Einiges vorwerfen - sicherlich aber nicht mangelnde Gestaltung. Trotz der Vielfalt an Exponaten wirkt die Präsentation an den fünf Ausstellungsorten - Friedericianum, Aue-Pavillon, Neue Galerie, Documenta-Halle und Schloss Wilhelmshöhe - einheitlich. Immer wieder werden Bezüge hergestellt und viele Künstler tauchen an unterschiedlichen Ausstellungsorten wieder auf, so dass der Betrachter durch die mehrmalige Begegnung mit ein und derselben Position die Intention eines Künstlers deutlich erkennt.

Strenge Gestaltung

Von Kunstschaffenden wurde diese strenge Gestaltung mitunter kritisiert - man fühle sich vereinnahmt, müsse sich dem Gesamtkunstwerk Documenta unterordnen, lauteten kritische Stimmen.

Als Besucherin empfindet man die straffe Leitung wohltuend. Sie bringt viel Ruhe in die sonst so nervenaufreibenden Großausstellungen. Buergel und Noack haben sich den Luxus erlaubt, manchen Künstlern einen ganzen Raum zu geben. Andere Arbeiten müssen allerdings - oder sollte man sagen dürfen? - mit wieder anderen Kunstwerken auf einer Wandfläche kommunizieren.

Dies mag Künstlern ungerecht erscheinen, für die Besucher hat es den Vorteil, Gegenüberstellungen en passant präsentiert zu bekommen. So steht man etwa fasziniert vor der Konfrontation einer minimalistischen Zeichnung von Nasreen Mohamedi mit einem geometrischen Bild von Agnes Martin.

Durch die Ähnlichkeit der beiden reduziert-abstrakten Ansätze wird deutlich, wie eingeschränkt der lange die Kunstwelt dominierende eurozentrische und nordamerikanische Blick ist. Denn von der indischen Avantgarde-Künstlerin Nasreen Mohamedi hatte man bis zu dieser Documenta nichts gehört, während Agnes Martin zu den Ikonen der amerikanischen Kunst im 20. Jahrhundert gehört. Dass derartige Vergleiche nicht oberlehrhaft wirken, liegt an der sinnlichen Form der Präsentation. Überhaupt ist das Spannendste dieses Kassel-Besuchs die Begegnung mit Positionen aus Ländern jenseits der traditionellen Kunstzentren Westeuropa und Nordamerika.

Afrika und Asien dominieren

Sicherlich: Bereits die letzte Documenta hat die Türen für Kunst aus aller Welt geöffnet. Allerdings erschienen afrikanische und asiatische Kunst vor fünf Jahren noch als das außergewöhnliche "Neue", während heuer Künstler unterschiedlichster Kulturen die Ausstellung selbstverständlich dominieren. "Als Europäer hast du auf dieser Documenta nichts zu melden", so der frustrierte Kommentar einer österreichischen Künstlerin. Verärgert über die wenigen eingeladenen Gegenwartskünstler und die vielen "historischen" Exponate sollen zahlreiche Künstler aus Deutschland den Besuch der heurigen Documenta verweigern.

Zu den Highlights des Parcours gehören etwa die Schwarzweißfotos von J. D. 'Okhai Ojeikere - einem Fotografen aus Nigeria, der seit Jahren die Frisuren afrikanischer Frauen als "Meisterwerke der Skulptur" - als "Skulpturen für einen Tag" festhält. Sie prägen sich genauso ein wie die Fotos der in Palästina geborenen Ahlan Shibli, die den Alltag junger Palästinenser und das Leben in Flüchtlingslagern dokumentiert. Die präzise ausgewählten europäischen Positionen fügen sich eindrucksvoll in das Gesamtgefüge: etwa die multimediale Rauminstallation von Olga Neuwirth, das berührende Video von Imogen Stidtworthy über das Wiedererlernen von Sprache oder der faszinierend poetische Film von James Coleman mit Harvey Keitel als Darsteller.

Im allabendlichen Filmprogramm setzen die Documenta-Macher ihr Anliegen, unbekannte Wegbereiter der Avantgarde ins Gespräch zu bringen, konsequent fort. So lernt man im Gloria-Kino den früh verstorbenen Filmkünstler Guru Dutt kennen, der in den 1950er Jahren das indische Kino durch soziales Engagement und das Einbinden von Musiknummern entscheidend erneuerte.

Kritik an Künstlerauswahl

Manches ist bei dieser Documenta auch missglückt. Nicht alle Präsentationen sind so stimmig wie die in der Neuen Galerie, die unerwarteterweise aufgrund der poetischen Arbeiten und der assoziativen Zusammenstellung zum Höhepunkt dieser Reise wird. Der Aue-Pavillon wirkt, sowohl was die Architektur als auch die Gestaltung betrifft, halbherzig. Nicht immer nachvollziehbar ist auch die Künstlerauswahl. Noack und Buergel sind Meister des Subtilen. Für expressive und laute, auch für humorvolle Kunst scheinen sie nicht allzu viel übrig zu haben. Besonders schwer hat es die gegenständliche, gestische Malerei, die ohnehin kaum - und wenn doch, mit wenig überzeugenden Positionen vertreten ist.

Der interessante Ansatz, historische außereuropäische Kunst in die Ausstellung einzubinden, um darauf hinzuweisen, dass auch eine persische Miniatur aus dem 14. Jahrhundert für die Gegenwart zeitgemäß erscheinen kann, ist schön und gut. Allerdings entsteht durch die gezielte Auswahl ein verzerrtes Bild der Kunstgeschichte: Die ganze westliche Kunstgeschichte vor dem 20. Jahrhundert wird hier - wohl ganz bewusst - ignoriert.

Lohnenswerte Reise

Eines macht die Reise nach Kassel auf jeden Fall lohnenswert. Die meisten Exponate zeigen, dass Gegenwartskunst keineswegs, wie ihr gerne unterstellt wird, nur selbstreferentiell und lediglich für Insider spannend ist, sondern dass sich Künstler subtil mit der Wirklichkeit, "dem puren Leben" (Buergel), auseinandersetzen.

Deutlich wird auch, dass sie das in einer visuellen Sprache - sei es Zeichnung, Video, Foto oder Performance - tun, die nicht so leicht durch andere Sprachen zu ersetzen ist. Die Bilder des südafrikanischen Fotografen Guy Tillim und dessen dokumentarische Fotos von politischen Krisenherden in Afrika lassen einen während der Heimfahrt von Kassel genauso wenig los wie die intimen Szenen einer Mutter-Kind-Beziehung des taiwanesischen Videokünstlers Tseng Yu-Chin oder die poetische Filmerzählung über die Träume von minderjährigen Flüchtlingen der aus Bosnien stammenden Düsseldorfer Künstlerin Danica Dakic´.

Documenta 12

Friedrichsplatz 18, D-34117 Kassel

www.documenta.de

Bis 23. 9. tägl. 10-20 Uhr

Katalog: documenta 12 Katalog,

Taschen Verlag, Köln 2007, 448 S.,

€ 34,99; documenta 12 Bilderbuch, Taschen Verlag, Köln 2007, 256 S.,

€ 39,99.

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