Handke_1_jung - <strong>Peter Handke</strong><br />
In den 1960er Jahren begann seine Karriere als Schriftsteller­. - © picturedesk.com  / Harry Croner / Ullstein Bild

Peter Handke: Kein Bewohner des Elfenbeinturms

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Seit bekannt ist, dass Peter Handke den Nobelpreis erhält, wird viel diskutiert, oft ohne Fakten. Lothar Struck zeigt wichtige Spuren in Handkes Werk.

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Seit bekannt ist, dass Peter Handke den Nobelpreis erhält, wird viel diskutiert, oft ohne Fakten. Lothar Struck zeigt wichtige Spuren in Handkes Werk.

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Zwei Mal war ich bei Peter Handke zu Besuch, 2014 und 2017. Es war um Mitternacht, als wir im November 2017 an der Station Chaville-Rive-Gauche standen. Ich hatte ein Zimmer im einzigen Hotel von Chaville gebucht (was, wie Handke mir versicherte, noch nie ein Besucher gemacht hatte – alle wollten immer in Paris übernachten). Hier trennten sich die Wege. Ich hatte noch zwanzig Minuten zu gehen; er rund fünf in die andere Richtung. Noch einmal bedankte ich mich für den schönen Abend und die Großzügigkeit. Ich hätte ihn doch erpresst, so Handke plötzlich, die schöne Stimmung scheinbar brechend. Ich hätte gesagt, dass ich kommen wollte, und da müsse man eben den Gast einladen. Schweigen. Grinsen. Sein Humor. Dann wies er mich, den Orientierungsidioten, noch einmal darauf hin, dass ich an einer bestimmten Stelle rechts bleiben müsse.

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Es war ein heiterer Abend mit ihm und seiner Frau Sophie Semin. Irgendwann kam das Thema Nobelpreis auf. Das wäre doch was, „Nobelpreisträger Handke“. Er wurde verlegen, nur ganz kurz.

Jetzt aber ist es passiert: Peter Handke bekam den Literaturnobelpreis 2019 zugesprochen.

Er wollte schreiben

„Du brauchst dir über mich keine Sorgen machen, ich bin schon ziemlich zäh, und außerdem werde ich sicher weltberühmt.“ Das schrieb 1963 der 21-jährige Jurastudent Handke seiner Mutter aus Graz. Da stand schon fest: Er wollte Schriftsteller werden, oder, genauer: Er wollte schreiben. Erste Veröffentlichungen in der Kleinen Zeitung gab es schon. Und er arbeitete bereits an einem Manuskript.

Handke begann im Herbst 1961 mit dem Jurastudium in Graz. Schnell wurde er mit der Künstlervereinigung „Forum Stadtpark“ bekannt, einer losen Verbindung von vorwiegend, aber nicht ausschließlich sich avantgardistisch gebenden Schriftstellern.

Handke kam für sie aus der Provinz, aus Kärnten. Dennoch gelangen ihm Lebens-Freundschaften, unter anderem die intensivste mit Alfred Kolleritsch, dem Herausgeber der manuskripte. Ab November 1964 versuchte sich Handke als „Kritiker“ in der Rundfunksendung „Bücherecke“ bei Radio Steiermark. 300 Schilling für 15 Minuten. Insgesamt entstanden in knapp zwei Jahren 15 Sendungen; die letzte Sendung gab es im September 1966. Der zu Beginn 22-jährige Handke zeigte sich als kundig, kannte keine Berührungs­ängste, scheute auch Kritik an Autoren wie Elias Canetti, Stefan Zweig oder André Gide nicht und beschäftigte sich auch mit den intellektuellen Ikonen wie Adorno oder Marcuse.

1965 wurde das Manuskript „Die Hornissen“ von Suhrkamp angenommen. Das Buch erschien im Frühjahr 1966. Handke hatte Siegfried Unseld zuvor noch Manuskripte von Theaterstücken geschickt, darunter die „Publikumsbeschimpfung“. Knapp zwei Wochen nach dem Erscheinen teilte Unseld Handke brieflich mit, dass er eine Einladung zum Treffen der Gruppe 47 arrangiert habe. Damit war der Ritterschlag vollzogen. Seit 19 Jahren richtete Hans Werner Richter in einer Art Lesewerkstatt eine Zusammenkunft von Schriftstellern aus. Zum Zirkel gelangte man nur mit einer Einladung Richters, die dem Auserwählten (manchmal war es auch eine Auserwählte) per Postkarte zuging.

Bei der Gruppe 47

Aber die Gruppe war in die Jahre gekommen. Um nicht immer dieselben Protagonisten dabei zu haben, hörte Richter immer mehr auf die Einflüsterungen von Kritikern und Verlegern. Der ursprüngliche Werkstattcharakter, die konstruktive Beschäftigung mit den Texten, war verloren gegangen. Stattdessen gab es fast nur noch Geschmacks- und Gesinnungsurteile der Kritiker. Die großen Vier (Marcel Reich-Ranicki, Hans Meyer, Joachim Kaiser und Walter Jens) dominierten die Diskussionen. 1966 sollte die Gruppe 47 nicht in einem westdeutschen Landgasthof in der Provinz stattfinden, sondern – auf Einladung – in Princeton. In den USA. Das passte vielen nicht. Eine solche Veranstaltung in einem Land, welches in Vietnam Krieg führte? Es gab Absagen und Proteste vor Ort.

Ab November 1964 versuchte sich Handke als ‚Kritiker‘ in der Rundfunksendung ‚Bücherecke‘ bei Radio Steiermark.

Handke interessierte dies nicht. Er, der leidenschaftliche Kinogeher, liebt den amerikanischen Wes­tern. Dreieinhalb Jahre später dreht er mit seinem Freund Wim Wenders einen Kurzfilm mit dem Titel „3 amerikanische LPs“. Sie schwärmen von der Musik der Band Creedence Clearwater Revival, gemeinden den nordirischen Sänger Van Morrison als Amerikaner ein und inszenieren eine Greyhound Fahrt durch die USA, die mit Szenen aus dem fahrenden Auto durch München simuliert werden. 1972 lässt Handke in einer Erzählung seine Hauptfigur mit John Ford zusammenkommen, einem Mann, der ihm, wie es heißt, Amerika gezeigt habe.

Handke hatte für sich beschlossen, bei der Gruppe 47 mitzumachen. Mehrmals meldete er sich nach einer Lesung zu Wort. Am auffälligsten, als er nach der Lesung von Walter Höllerer, einer der Kernfiguren der Gruppe 47, dessen Text als „völlig indiskutabel“ und „geistlos“ abkanzelte. Nach Höllerer las Handke selber aus einem Manuskript mit dem Titel „Der Hausierer“. Der Text war von ihm als Kriminalroman angekündigt worden und fiel in der anschließenden Diskussion mehrheitlich durch.

Ob Handkes legendärer Ausbruch am nächsten Tag nach der Lesung von Hermann Peter Piwitt aufgrund der Kritik an seiner eigenen Lesung geschah oder der Sache der Literatur galt, bleibt ungewiss. Wie auch die Frage, ob die Ausführungen absichtsvoll, ja sogar trainiert wurden, wie Friedrich Christian Delius dies später behauptete. Handke selber hat dem immer widersprochen. Ganz spontan war die Rede nicht, weil Handke sich selber auf Notizen bezog, die allerdings nichts mit Piwitts Text zu tun hatten, denn hierüber sagte er nichts. Stattdessen gab es eine Fundamentalkritik – genau das, was Richter sozusagen „verboten“ hatte, denn es sollte immer nur um den eigentlichen Text gehen, nicht um den Autor oder die Literatur an sich.

Handke widersetzte sich diesem Diktum – und Richter ließ es zu. Womöglich stimmte Richter Handke dahingehend zu, dass die Literatur, die sich während der Lesungen zeigte, doch eher ermüdend und kraftlos war. Handke nennt sie in seinem Statement mehrmals „läppisch“. Und dann folgt das Wort, das der Wutrede für immer die Überschrift geben sollte: „Beschreibungsimpotenz“.

Handke_3_Fischer - Peter Handke und der damalige Bundespräsident Heinz Fischer vor einer Lesung am 4. Oktober 2012 in der Josefskapelle in der Wiener Hofburg. - © AFP PHOTO / STR
© AFP PHOTO / STR

Peter Handke und der damalige Bundespräsident Heinz Fischer vor einer Lesung am 4. Oktober 2012 in der Josefskapelle in der Wiener Hofburg.

Wichtiger als die harsche Kritik an den Schriftstellern zu Beginn ist Handke die im weiteren Verlauf der Rede artikulierte Kritik an der „läppischen Literaturkritik“, die diese Form der Literatur nicht nur goutiere, sondern geradezu abfordere und nichts anderes zulasse. Was vermutlich kaum jemand wusste: In der zweiten Sendung seiner „Bücherecke“, anderthalb Jahre vor Princeton, beschäftigte sich Handke ausgiebig mit dem „leeren Geschäft“ der Literaturkritik. Leer deshalb, weil sie „für die Bewertung“ sprachlich nur einen begrenzten Vorrat von Worten habe. „Sowohl die Worte für die Beschreibung einer Geschichte als auch die Bewertungsworte für die Sprache dieser Geschichte sind mit der Zeit automatisiert worden.“ Der Konflikt, den Handke umreißt, zeigt sich in der Endphase der Gruppe 47 in den Diskussionen deutlich (und wird später in der Trivialisierung der Literaturkritik noch stärker spürbar).

Massenkulturelle Phänomene

Handke war durchaus willens, für seine Auffassungen Nachteile in Kauf zu nehmen. 1966 musste er dies noch nicht. Es gab zwar Gegenwind (unter anderen von Günter Grass), aber dies lief im Vergleich zu heute sehr gesittet ab.
Handke hatte unter Berücksichtigung der damaligen Kommunikationswege enorm schnell für Furore gesorgt: im März der erste Roman, im April skandalträchtiges Auftreten und im Juni die Premiere der „Publikumsbeschimpfung“. Vier junge Leute ergehen sich in Bemerkungen und zum Teil durchaus heiteren Ausfällen gegen die Konventionen einer bürgerlich empfundenen herrschenden Gesellschaft und deren Ordnung.

Bereits hier begann Handke massenkulturelle Phänomene zu verarbeiten bzw. auch, was wenig gesehen wird, zu karikieren. Man sieht in der Aufzeichnung im Fernsehen das in Teilen gekränkte Publikum, welches sich mit Zwischenrufen wehrt. Das ließ man nicht auf sich sitzen. Unbewusst wurde damit genau die Intention Handkes erreicht. Nach den knapp anderthalb Stunden Dauerbeschimpfung – jeder konnte dabei auch mit Genugtuung auf den anderen, den Nachbarn, zeigen – hielten sich Applaus und Buh-Rufe die Waage. Plötzlich taucht ein junger Schlaks mit Pilzkopf auf: Peter Handke betritt selbstbewusst die Bühne. Die Buh-Rufe nehmen zu und Handke macht eine unmissverständliche Geste, die zu noch mehr Reaktionen herausfordert. Mit den Schauspielern setzt er sich dann auf die Bühne und genießt die nicht enden wollenden Reaktionen.

Dabei ist Handke eine durchaus ambivalente Persönlichkeit, was Öffentlichkeit angeht. Legendär sein Anspruch, den er einmal während einer Lesung 1963 äußerte. Ein Redner fragte ins Publikum, wer wohl irgendwann einmal endlich den neuen österreichischen Roman schreiben werde. Der junge Mann, der an der Wand stand und selbstbewusst „Ich“ sagte, war Handke. Gleichzeitig gibt es viele Zeitzeugen, die von einer Schüchternheit Handkes sprechen. Auf seine Austriazismen war er nicht besonders stolz und er legte Wert darauf, hochdeutsch zu sprechen. In diesem Spannungsfeld ist das heute noch zuweilen komplizierte Verhalten Handkes zu verstehen. Er ist einerseits menschenscheu; größere Ansammlungen mag er nicht. Andererseits auch stets neugierig und selbstbewusst.

Internat in Tanzenberg

Geprägt war Handke von seinem Aufenthalt im bischöflichen Internat in Tanzenberg. Irgendwie hatte es die Mutter geschafft, dass er dort 1954 aufgenommen wurde. Die schulischen Leistungen waren sehr gut. Aber nach fünf Jahren verließ er es und wechselte auf ein Gymnasium nach Klagenfurt. Als ich mit Handke 2017 durch Chaville ging, sprach er urplötzlich von dem Bruch in seinem Leben, der der Aufenthalt in Tanzenberg für ihn gewesen war. Man spürte förmlich die Ergriffenheit. Wie häufig bei ihm war es keine Klage. Eher eine Feststellung, ein Sich-Vergewissern einer Prägung, die bis heute anhält.

Früh begann er zu schreiben, beeinflusst von Autoren wie Franz Kafka und William Faulkner. Er schätzte den Nouveau Roman und hasste jede Literatur, die die Sprache nur als Transportmittel für einen Plot braucht. Ihm fehlte das Form- und Sprachbewusstsein in der zeitgenössischen Literatur. Sprache musste für Handke immer neu gefunden werden, andernfalls wären es nur Abziehbilder. Seine theoretischen Überlegungen passten nur scheinbar in den revolutionären Zeitgeist. Die gelegentliche Verklärung Handkes als 68er könnte falscher nicht sein: Die intentionale, mit linken Botschaften ausgestattete Literatur der 1970er Jahre lehnte er ebenso ab wie das realistische, rückwärtsgewandte Erzählen der Gruppe 47-Teilnehmer.

Diese Erneuerungssehnsucht beschränkt sich jedoch nicht auf die Verwendung von Worten. Man kann sie bei Handke auch in
Bezug auf Orte beobachten.

Trotzig ging er seinen Weg, bekannte sich als Bewohner des Elfenbeinturms, erklärte seine Sicht auf Literatur. In den 1970ern setzte Handke Trends. Zwar titelte man damals bereits das Attribut „umstritten“, wenn es um Handke ging, aber er galt unabhängig davon bei vielen Schriftstellern als stilbildend. Seine Schaffenskraft war enorm. Er schrieb Theaterstücke, Essays, Erzählungen (den Begriff „Roman“ lehnt Handke bis heute ab), drehte Filme (für das Fernsehen wie auch für das Kino), schrieb Drehbücher (die teilweise von Wim Wenders verfilmt wurden), betätigte sich als Übersetzer (unter anderem von Emmanuel Bove, Patrick Modiano und Walker Percy), entdeckte Kollegen wie Hermann Lenz oder Wolfgang Welt und versuchte sich an Hörspielen. Ende der 1970er Jahre begann er aus den Eintragungen in seinen Notizbüchern die berühmten „Journale“ zu formen, die von vielen Lesern besonders geschätzt werden.

Mit „Langsame Heimkehr“ schlug Handke 1979 einen neuen Ton an. Aus dem Sprachkritiker wurde, so Teile der Handke-Forschung, ein Erzähler, der Naturbeschreibungen evoziert statt avantgardis­tisch zu schreiben. Das Ideal wechselte von Kafka zu Goethe. Aber so deutlich die Zäsur auch zunächst erscheinen mag: Sie kam nicht derart plötzlich, wie dies oft suggeriert wird. Bereits mit „Wunschloses Unglück“, in dem er 1972 anlässlich des Freitods seiner Mutter von deren Leben erzählt, setzte das Erzählen ein. Unterschwellig ist hier allerdings noch die Suche nach der richtigen Sprache, dem adäquaten Ton spürbar.

Allgemein wird die „Kehre“ Handkes sowohl mit einer veritablen Schreibkrise als Initiation erklärt als auch mit einer lebensbedrohlichen Herzkrankheit, an der Handke litt. Allerdings gab er auch nach dieser „Wende zum Klassischen“ (Hans Höller) den kritischen Umgang mit der Sprache nicht auf. Statt sich jedoch auf die manipulatorische Verwendung von Sprache zu kaprizieren, verfolgte Handke nun das, was Fabjan Hafner treffend als „Erneuerungssehnsucht“ bezeichnete.

Während beispielsweise Sprachforscher und Philologen – nicht zuletzt orientiert an Victor Klemperers Studie „LTI“ über die Sprache des Nationalsozialismus – die einzelnen Vokabeln und Floskeln, die von den Nazis verwendet wurden, als Verbotswörter ausrufen, positionierte sich Handke dahingehend, dass jegliches Wort durch eine „Bedeutungswandlung“ durch den Dichter wieder neu verwendungsfähig gemacht werden kann. So können auch kontaminierte Worte aus ihren alten (negativen, missbrauchten) Konnotationen in neue Zusammenhänge überführt werden.

Diese Erneuerungssehnsucht beschränkt sich jedoch nicht auf die Verwendung von Worten. Man kann sie bei Handke auch in Bezug auf Orte beobachten. Die Gegenerzählung befreit den „Un-Ort“ aus der einseitigen Klammer der Geschichte und schafft eine arkadische, idealistische Sicht auf die Welt. Dabei sollen allerdings historische Implikationen nicht einfach „idyllisiert“ bzw. „vergessen“ werden, sondern es geht um eine „Revitalisierung“ (Christian Luckscheiter) des Ortes mit dem Wissen um dessen Geschichte, aber nicht in ausschließlichem Rekurs darauf.

Handke_2 - Peter Handke in Chaville am 10. Oktober 2019, dem Tag, an dem er erfuhr, dass er den Nobelpreis für Literatur erhalten wird. - © APA / AFP / Alain Jocard
© APA / AFP / Alain Jocard

Peter Handke in Chaville am 10. Oktober 2019, dem Tag, an dem er erfuhr, dass er den Nobelpreis für Literatur erhalten wird.

Handkes neues Schreiben stieß die avantgardistische Lesergemeinde vor den Kopf. Handke ließ sich davon nicht beirren. Die Protagonisten in seinen Erzählungen und Theaterstücken suchten ihre Position, ihren Ort in der Welt, ihr „Volk“, eine Art virtuelle Gemeinschaft jenseits von Nationalismen. Sie sind Forschende, Fragende, Verirrte, „Idioten“ (Privatmänner). Den Wesenskern von Handkes Weltsicht kann man im 1990 erschienenen Theaterstück „Das Spiel vom Fragen“ (später: „Die Kunst des Fragens“) erkennen. Es trägt den Untertitel „Die Reise zum sonoren Land“. Aus allen Richtungen kommen hier (antagonistische) Paare zusammen, die in der neu gefundenen Gruppe die Welt sozusagen er­obern wollen.

Keine Idyllenprosa

Aber Handke schreibt keine Idyllenprosa. Alles ist und bleibt flüchtig. Trotz Sehnsucht danach gibt es keine Dauer. Stets schwingt auch der Verlust, die Katastrophe, der Tod mit. Scharf sind die Kontraste, die das Ephemere des Glücks erst recht zu kostbaren Augenblicken werden lassen. Eine Landschaft öffnet sich – aber da ist der Bombentrichter. Er besteigt einen Berg, aber ein bösartiger Hund fletscht den Erzähler an. Eben ist man noch im bukolisch erzählten Wald, dann hört er für den Leser das Schreien der Kinder von Izieux – und man weiß, in welchem Wald er ist.

Als größten Bruch in Handkes Werk werden die sogenannten Serbien-Texte angesehen. Im Januar 1996 veröffentlichte die Süddeutsche Zeitung einen Text Handkes mit dem bewusst provokativen Titel „Gerechtigkeit für Serbien“. Mit dem Untertitel „Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina“, der später der Buchtitel werden sollte, wird ein Reisebericht suggeriert, was der Text allerdings zunächst nicht einzulösen scheint.

Handke übt zu Beginn heftige Kritik an der journalistischen Rezeption und Berichterstattung zu den Jugoslawien-Kriegen in Frankreich und Deutschland und schildert dann, im zweiten Teil, seine Reise durch Serbien, das verfemte Land, dessen Politik von den Medien die alleinige Schuld an den Sezessionskriegen zugewiesen wurde. Immer wieder betont er seine Rolle als Fragensteller, der versucht, vorurteilslos die Lage in Serbien zu erzählen, das zur Zeit der Reise einem internationalen Boykott ausgesetzt war. Er besucht den Belgrader Wochenmarkt, beobachtet Leute, wie sie vorsichtig das kostbare Benzin umfüllen, und befragt Menschen nach ihrer Lebenssituation. Handke entdeckt eine einerseits verschüchterte, aber auch trotzige Gemeinschaft, die sich von der Welt ungerecht behandelt fühlt. Dabei fast gebetsmühlenartig – auch in anderen Büchern zu Serbien – das Bekenntnis, nicht „für“ die Serben zu sein, sondern „mit“ ihnen. Der Unterschied wird kaum wahrgenommen.

Trügerische Objektivität

So einfühlsam, tastend und fragend Handkes Beobachtungen zu Serbien daherkamen, so vehement geriet seine Sprach- und Medienkritik über eine Berichterstattung, deren Urteile er bereits in den Schlagzeilen als feststehend enthüllte. Das erinnert an seinen Aufsatz „Die Tautologien der Justiz“ von 1968. Darin thematisiert Handke die Gerichtsverfahren der APO-Ära in Berlin.

Es geht nicht um die „großen“ Taten, sondern um Bagatelldelikte wie Land- bzw. Hausfriedensbruch oder Teilnahme an einer nicht genehmigten Demonstration. Er analysiert die Sprache von Richtern, Staatsanwälten und Zeugen und belegt, dass deren Objektivität trügerisch ist. Er dokumentiert, wie die Urteile über die Angeklagten in der Sprache bereits implizit durch Setzung oder Auslassung von Attributen oder Eigenschaften enthalten sind. Dreißig Jahre später seziert er mit Wut, aber auch mit einer gewissen Wonne Spiegel- und FAZ-Artikel auf ihre Einseitigkeiten.

Handkes Engagement, seine Emphase für das multiethnische Jugoslawien, begann Anfang der 1980er Jahre. In einem Gespräch mit Lojze Wieser erläuterte er, wie er sich „irgendeinmal“ für das „Slawentum“ entschieden hatte, „für meine Mutter, nicht gerade gegen meinen Vater, aber ich habe mich entschieden für meine, für die Vorfahren meiner Mutter“.

Aber Handke schreibt keine Idyllenprosa. Alles ist und bleibt flüchtig. Trotz Sehnsucht danach gibt es keine Dauer. Stets schwingt der Verlust, die Katastrophe, der Tod mit.

1986 wurde mit „Die Wiederholung“ Handkes erste große Erzählung über das Land seiner Ahnen mütterlicherseits publiziert. Jugoslawien wurde nicht nur privates, sondern auch historisches, politisches und gesellschaftliches Ideal. Als einziges Land habe sich Jugoslawien praktisch alleine von der Nazi-Barbarei befreit. Handkes Hinwendung an den slowenischen Karst und die Berglandschaft der Julischen Alpen, die er mehrfach als sein „Arkadien“ bezeichnete, war niemals identisch mit der Identifikation mit einem slowenischen Staat. Handkes Arkadien war nicht Slowenien, sondern ein Jugoslawien mit Slowenien.

Daher erscheint Handkes 1991 in der kurzen Erzählung „Abschied des Träumers vom Neunten Land“ formulierte Ablehnung der Sezessionen Sloweniens und Kroatiens aus dem jugoslawischen Bundesstaat nur folgerichtig. Er beklagte das fehlende Bewusstsein junger Slowenen, sich für das geschichtsträchtige Jugoslawien einzusetzen, und glaubte, dass die anti-jugoslawische Einstellung vieler westlicher Medien auf die Meinungsbildung in den abtrünnigen jugoslawischen Bundesstaaten ausgestrahlt habe. Bereits damals kritisierte er deutsche Medien, die Jugoslawien geschichtsvergessen und allzu pauschal als „Völkergefängnis“ dämonisiert hätten.

Die Trias aus Privatem (Land der Ahnen), Politischem und Sprachkritischem veranlasste ihn, für sein verlorenes Land einzutreten. In einer Passage in „Mein Jahr in der Niemandsbucht“ kann man dieses Ringen mit sich selbst nachlesen. Die Reste dieses verlorenen Landes Jugoslawien zeigten sich ihm in Serbien. Hier fand er die Residuen jugoslawischen Lebens. In den Medien galt der aggressive Nationalismus von Slobodan Milošević als der alleine verantwortliche Schuldige für die Kriege. Man übersah den in Teilen antisemitischen Chauvinismus Franjo Tudjmans (Kroatien) und den islamistisch konnotierten Nationalismus Alija Izetbegovićs.

Eine Zeitlang brachte Handke die Hälfte seiner Bücher „im Spannungsfeld von Empörung und Schwermut“ als sprachkritische Texte zur Jugoslawien-Problematik heraus. Die Kritik beschränkte sich früh nicht auf die literarische Leistung. Man denunzierte Handke als Person, unterstellte ihm Relativierungen, bezichtigte ihn, ein „Freund“ Milošević’ zu sein („Die Tablas von Daimiel“ zeigen das Gegenteil). Das Jakobinertum feierte Hochkonjunktur. Man richtete ihn mit Hilfe von Interpretationen seiner Texte; die Ursprungstexte selber kursierten immer seltener. Aus Trotz fuhr er schließlich 2006 zur Beerdigung von Slobodan Milošević und hielt eine kleine Rede, die zwar harmlos ist, aber Handke bei vielen Intellektuellen endgültig zur Paria-Figur machte. Man unterstellte ihm politische Statements, die er nie getätigt hatte. Buchhandlungen verbannten seine Bücher und waren stolz darauf.

Aus Trotz und sogar Wut

Man muss nicht alle Jugoslawien-Bücher Handkes goutieren. Und ja, es ist verständlich, wenn man sich an der Reise zum Begräbnis stößt. Handke selber schreibt in seinem Notizbuch, dass er sich unwohl in der Gesellschaft der „Popanz-Generäle“ fühlt. Einiges geschah aus Trotz oder sogar Wut. Strategisches oder taktisches Vorgehen kannte er nicht. Man merkt es einigen Texten an. Mit der Vehemenz der persönlichen Angriffe hatte Handke nicht gerechnet. Sie trafen ihn, provozierten ihn.

2014, anlässlich der Vergabe des Ibsen-Preises in Norwegen, konnte man dies erneut beobachten. Im deutschsprachigen Raum war nach der Erzählung „Die morawische Nacht“ (in der man eine leicht selbst­ironische Note wahrnehmen konnte) und vor allem dem großartigen tschechowhaft-komödiantischen Partisanendrama „Immer noch Sturm“ ein Burgfrieden eingekehrt. In Norwegen wurde Handke jetzt auf Plakaten als Apologet von Völkermördern beschuldigt – von (wenigen) Leuten, die die Bücher gar nicht gelesen hatten, weil es keine norwegischen Übersetzungen gab. Sie wurden aufgestachelt von Medien, die sich selber wiederum nur auf Sekundärtexte beriefen. Mein erster Besuch bei Handke in Chaville war einige Wochen nach der Ibsen-Preis-Verleihung. Er war noch immer fassungslos.

Die ersten Reaktionen nach der Nobelpreis-Verkündung zeigen: Die Wunden werden wieder aufgerissen. Erstaunlich, dass beim Literaturnobelpreis 2005 für Harold Pinter kaum jemand auf dessen noch schärfere Position zu den Jugoslawien-Kriegen eingegangen war. Pinter hatte sich sogar in einer Petition für die Freilassung von Milošević eingesetzt, den er für unschuldig hielt. Handke hat diese Petition nicht unterschrieben.

Der moralisierende Duktus, der in den letzten Jahren im literarischen Diskurs noch zugenommen hat, aber bedauerlicherweise meist weitgehend befreit ist von allzu genauer Primärlektüre, wird erneut bemüht. Mehr als zehn Jahre nach der letzten Erregungswelle zu Handke zücken jetzt auch die digitalen Meinungsmacher die Tastaturen. Handke hat niemals das Massaker von Srebrenica relativiert oder gar geleugnet. Er hat es mehrfach als das schlimmste Verbrechen in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg bezeichnet. Er hat nie „Partei“ für Milošević ergriffen, sondern versucht, die „Schuldfrage“ für die diversen Balkankriege komplexer zu befragen. Die Forschung ist längst weiter; die „Alleinschuld“ der serbischen Nationalisten gibt es so nicht. Das relativiert natürlich die verübten Verbrechen in keinem Fall – etwas, das auch Handke nicht macht.

Im August telefonierte ich mit Handke. Wir sprachen über sein neues Theaterstück, welches im nächsten Jahr in Salzburg uraufgeführt werden soll. Er las Charles Dickens, „Eine Geschichte aus zwei Städten“. Aber es gebe immer weniger zu lesen, so Handke. Nur ab und zu ein Brief eines Lesers, der ihn dann rühre.

Es gibt kaum einen lebenden Schriftsteller, der den Nobelpreis derart verdient hat wie Peter Handke.

Der Autor hat bereits mehrere Bücher zu Peter Handke verfasst, unter anderem „Der mit seinem Jugoslawien“ und „Erzähler, Leser, Träumer“.

Erzähler, Leser, Träumer_Struck_handke - © Mirabilis
© Mirabilis
Buch

Erzähler, Leser, Träumer

Begleitschreiben zum Werk von Peter Handke

Von Lothar Struck

Mirabilis 2017

224 S., geb., € 39,10

Der mit seinem Jugoslawien_Struck-Handke - © Ille & Riemer
© Ille & Riemer
Buch

„Der mit seinem Jugoslawien“

Peter Handke im Spannungsfeld zwischen Literatur, Medien und Politik

Von Lothar Struck

Ille & Riemer 2013

332 S., eBook, € 24,80

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