Kein Entrinnen aus dem Labyrinth Leben

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Alexander Titel und Vladimir Arefiev inszenierten Giacomo Puccinis „Manon Lescaut“ am Tiroler Landestheater neu. Die Oper entblößt, in die Gegenwart gehoben, in vier Spots erstaunlich präzise Gesellschaftsmechanismen unserer Zeit. Die Mehrfachbesetzungen der einzelnen Rollen lassen dabei neue Blickwinkel und Chancen entstehen.

Ein Liebespaar rettet sich in ein unterirdisches Röhrensystem. Verzweifelter kann seine Lage nicht sein. In ein fremdes Land deportiert, gelang den jungen Leuten die Flucht. Da endet die Röhre unvermittelt. Die Frau, zu Tode erschöpft, bricht zusammen. Als der Mann von der vergeblichen Wassersuche zurückkommt, um die Sterbende in die Arme zu schließen, verfehlt er den Eingang, taucht in der Nebenröhre auf. Es gibt kein Entrinnen aus dem Labyrinth Leben, und jeder ist allein. Die alles überwindende Liebe, Nähe, Glück, Trost – Illusion. Und der Tod trennt unbarmherzig. Es ist ein existenzielles Bild, mit dem Regisseur Alexander Titel sowie Bühnen- und Kostümbildner Vladimir Arefiev „Manon Lescaut“ am Tiroler Landestheater beenden. Puccinis Musik spricht hier von nackter Verzweiflung und Lebensirrtum. Keine Verklärung weit und breit.

Jugend, Schönheit, Reichtum

Die Oper, basierend auf Abbé Prévosts Roman aus dem 18. Jahrhundert, entblößt, in die Gegenwart gehoben, in vier Spots erstaunlich präzise Gesellschaftsmechanismen unserer Zeit. Manon sieht ihre Bestimmung in Jugend, Schönheit und Reichtum und zahlt jeden Preis dafür. Ihre materialistische Oberflächlichkeit verrät ihre Gefühle wahrer Liebe, nicht als einmalige Verfehlung, sie wird es immer wieder tun. Des Grieux ist als bedingungslos Liebender und Seelenvoller ein Außenseiter. Er begegnet Manon auf einem Bahnhof, ihrer Zwischenstation auf dem Weg in ein Kloster, und verfällt ihrem Liebreiz und ihrer Naivität sofort. Manon hat keine Bedenken, mit ihm nach Paris durchzubrennen.

Dort hält sie seine Armut nicht aus und flieht erneut, diesmal in das Luxusambiente des alternden Geronte, der seine Luxustussi für die Freunde tanzen lässt. Als Des Grieux Manon findet, wirft sie sich in seine Arme, kann sich aber von ihrem Fummel, den Juwelen und dem Geld nicht trennen. Sie und ihr Bruder, ohne Statussymbole und Selbstwertgefühl aufgewachsen, suchen den gesellschaftliche Aufstieg um jeden Preis. Durch Geronte wird Manon, aus dem Nichts kommend, reich und schön und ein Star. Als Geronte ihre Flucht mit Des Grieux entdeckt, stürzt sie rasch und tief, er lässt er sie als Diebin verhaften. Manon wird verurteilt und deportiert. Des Grieux gelingt es, mit ihr zu gehen.

Den beiden im Ausland arrivierten russischen Bühnenkünstlern Alexander Titel und Vladimir Arefiev gelang bis zum finalen Schock eine intensive, stimmige, fesselnd nahe „Manon Lescaut“. Titel erzählt die Geschichte von dem Mädchen und dem Träumer in unserer erbarmungslos einsamen Welt mit Sorgfalt und Leidenschaft, rückt das Liebespaar in den Mittelpunkt und fordert die Darstellungskunst der Protagonisten.

Die Studenten und Manon kommen auf Arefievs Bahnhof an, dicke Röhren trennen die Bahnsteige und erinnern vielleicht auch an Puccinis Zeit der Industrialisierung. Sie tummeln sich hier mit Geschäftsleuten und Spielern, am Rand ein paar Buffetttische. Die Szenen wechseln filmisch zwischen Großaufnahme und Totale. Am Bahnhof spielt auch der optisch bedrückend zitierende Deportationsakt. Das zweite Bild im Haus Gerontes, wo Manon erneut die Liebe ihrem Luxusbedürfnis opfert, spiegelt die Kälte und Trostlosigkeit, die sie hier empfindet.

„Manon Lescaut“ eröffnet einmal mehr eine Stärke des Tiroler Landestheaters: Mehrfachbesetzungen, die neue Blickwinkel und Chancen zulassen. Ludmila Slepneva bot bei der Premiere eine nur unterbelichtete Manon. Jennifer Chamandy zeigte in der zweiten Aufführung die intensiv entwickelte Studie einer von falschen Idealen verführten sehr jungen Frau und bot mit stimmlicher Leuchtkraft eine große gesangliche Leistung. Fulvio Obertos herrlich timbrierter, ausdrucksstarker Tenor geht in Des Grieux’ Leidenschaft auf.

Stärke des Landestheaters

Marc Kugel trifft den zwielichtigen Geronte punktgenau, Gérard Kim ist als Manons Bruder erfolglos auf dem Weg zum kleinen Gauner, seiner Schwester etwas zu nah und eine Spur zu viel Kavalierbariton. Auf bester Ensemblehöhe Fabiano Cordeiro bzw. Martin Mitterrutzner als Edmondo und Lysianne Tremblay bzw. Anne Schuldt als Musiker. Die Hochspannungswelle Leo Siberski feuert am Dirigentenpult das geistesgegenwärtige Tiroler Symphonieorchester und die Bühne an. In der zweiten Vorstellung nahm er die Lautstärke zurück und hat das Stück dadurch kenntlicher gemacht und den Solisten wie auch der Chorqualität Chancen eingeräumt.

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