Kein Hahn kräht danach

19451960198020002020

Zeitgenössische E-Musik in der Krise: Das Publikum reagiert mit gelangweiltem Desinteresse auf einen Betrieb, von dem keine Impulse mehr ausgehen.

19451960198020002020

Zeitgenössische E-Musik in der Krise: Das Publikum reagiert mit gelangweiltem Desinteresse auf einen Betrieb, von dem keine Impulse mehr ausgehen.

Werbung
Werbung
Werbung

Die Musikkritiker und die Freunde zeitgenössischer E-Musik werden jubeln: Von 20. März bis 1. April findet in Wien das Festival "Hörgänge - Komponieren in Österreich 1998" statt. Schön. Außerhalb des kleinen Kreises der Jubelnden jedoch werden die "Hörgänge" auf gelangweiltes Desinteresse stoßen. Das alljährlich stattfindende "wichtigste professionelle Forum der zeitgenössischen Musik in Österreich" (Pressetext) verkauft nach Schätzung der Organisatoren im Durchschnitt 300 Generalpässe; das heißt nur 300 Menschen pro Jahr sind willens, 680 Schilling zu bezahlen, um mehreren Aufführungen beiwohnen zu können*). Ganze 27 Uraufführungen werden heuer geboten - und kein Hahn kräht danach.

Nicht, daß die "Hörgänge" ein miserables Festival wären - es will nur einfach kaum jemand freiwillig zeitgenössische E-Musik hören. "Die Distanz zwischen dem, was die Komponisten tun, und dem Publikum war in der gesamten Musikgeschichte noch nie so groß wie heute", konstatiert der zukünftige Direktor der Wiener Volksoper Dominique Mentha im Furche-Interview (Nr. 8/1998) "Den Wegen kompositorischen Denkens folgte keine bereitwillige Hörerschar" formuliert das "Lexikon zeitgenössischer Musik aus Österreich" (siehe Kasten) euphemistisch. Das allgemeine Desinteresse ist eklatant - nicht nur in Österreich: 1996 konnte der Bankrott der Donaueschinger Musiktage, ein legendäres Mekka der E-Musik, gerade noch abgewandt werden. Regelmäßige Erfolge auch außerhalb der kleinen E-Musik-Zirkel gelingen den zeitgenössischen Komponisten lediglich mit Opern.

"Kritiker und Zunftgenossen diskutieren, die Gelehrten analysieren, die Komponisten lamentieren - das Publikum aber reagiert. Zwar unartikuliert, doch deutlich - und entzieht sich großen Teilen einer als insignifikant empfundenen Moderne mit interesselosem Mißbehagen", bringt der Münchener Musikwissenschaftler und Kritiker Klaus Peter Richter die Situation auf den Punkt.

Offiziell ist die zeitgenössische E-Musik anerkannt wie noch nie zuvor. Kulturpolitiker und Musikjournalisten bekennen sich vorbehaltlos zur zeitgenössischen E-Musik, viele Kulturinteressierte geben sich von der großen Bedeutung dieser Musik für die Kultur der Gegenwart überzeugt. Zeitgenössische E-Musik ist politisch korrekt. Vor allem die CD-Verkaufszahlen strafen die braven Bekenner jedoch Lügen: Zum Privatvergnügen konsumieren die meisten dann doch lieber Mozart, die Beatles oder Drum'n'Bass als György Ligeti, Iannis Xenakis oder Mauricio Kagel.

Die Gründe für das hartnäckige Desinteresse an der zeitgenössischen E-Musik sind altbekannt, werden von der Zunft aber größtenteils als irrelevant abgetan. Die zeitgenössische Musik seit Arnold Schönberg vernachlässigt bestimmte elementare Funktionen, die Musik seit jeher erfüllte: Ob bei rituellen Gesängen von Eingeborenenstämmen, bei Beethovens "Ode an die Freude" oder bei Jimi Hendrix' Gitarrensolos - das Moment der Ekstase, der Zustand der völligen Auflösung des menschlichen Bewußtseins in musikalischen Klängen ist aus der Musikgeschichte nicht wegzudenken. Diese Dimensionen werden in der zeitgenössischen E-Musik jedoch völlig negiert. Oder ist schon einmal jemand bei einem Streichsextett von Friedrich Cerha in Ekstase geraten?

Auch die Flucht aus dem Alltag, der kurzfristige Rückzug in eine Scheinwelt war stets eine wichtige Aufgabe der Musik. Schon vor 40.000 Jahren haben Töne aus Knochenflöten die Menschen für kurze Zeit die Härten des altsteinzeitlichen Lebens vergessen lassen. Ebenso dienen die von zeitgenössischen Komponisten verachteten Melodien und Harmonien, die etwa der europäischen Musik des 18. und 19. Jahrhunderts oder der Popmusik einen enormen Erfolg beschert haben, als Fähre ins Reich der Phantasie. Wer hingegen würde auf die Idee kommen, am Kaminfeuer bei einem guten Glas Rotwein vom Glück des letzten Sommers zu träumen - und dabei ein Bläserquintett von Kurt Schwertsik auf den Plattenteller legen?

Die großen Themen der Menschheit - Liebe und Haß, Glück und Leid - haben in der zeitgenössischen E-Musik (mit Ausnahme der Oper) keinen Platz. Wiederum kann hier das 18. und 19. Jahrhundert sowie die Popmusik viel mehr bieten: Intensive Gefühle und Identifikationsmöglichkeiten. Dies mag erklären, wieso allein Aufführungen zeitgenössischer Opern auf große Resonanz stoßen: Die großen Gefühle, aber auch das Szenische und die Faszination der menschlichen Stimme, erlauben auch musikalisch nicht Vorgebildeten einen Zugang zu dem Werk. Normalerweise jedoch bleibt zeitgenössische E-Musik allen verschlossen, die nicht Musikwissenschaftler oder ihrerseits Komponisten sind. Doch selbst für diese Eingeweihten sind die vom Schöpfer eines Werkes mitgelieferten Erläuterungen unentbehrliche Voraussetzung zu dessen Verständnis. Die Erläuterungen zum Werk erhalten beinahe den gleichen Rang wie die Komposition selbst. Die Werke "tendieren zu einer Art Privatsprache ohne überpersönlichen Kommunikationswert", ätzt Klaus Peter Richter.

Zeitgenössische E-Musik ist der tongewordene Triumph des Intellekts über das Gefühl. Aber es ist ein Pyrrhussieg: Kaum jemand will ihn mitfeiern. Manchmal regen sich auch in der Zunft selbst Zweifel oder Widerstände: 1994 verabschiedet sich David Allermann nach neun Jahren als zweiter Violonist des auf das 20. Jahrhundert spezialisierten Arditti-Quartetts mit den bezeichnenden Worten: "Ich will jetzt endlich Musik spielen." 1986 wetterte Eliahu Inbal, damals Chefdirigent des Radiosinfonieorchesters Frankfurt: "Millionen werden dafür (für die Moderne) ausgegeben, und doch glaube ich, daß diese Musik so gut wie keine Chance hat. Die Leute haben wohl den Eindruck, dieser Musik fehle etwas. Jedenfalls müssen die Komponisten eine Sprache für das Publikum wiederfinden."

Die Komponisten fühlen sich zum Großteil ungerecht behandelt. Knüpfen sie denn nicht an die lange Tradition der europäischen Musik an? Stehen sie denn nicht an der Spitze einer Entwicklung, die einer nachvollziehbaren Logik von Bach über Mozart und Schönberg bis in die heutige Zeit folgte? Ja - nur hat diese Entwicklung schon vor längerem ihr Ende gefunden. Den augenscheinlichsten Schlußpunkt hat John Cage mit seinem Stück 4'33'' gesetzt , das aus 4 Minuten und 33 Sekunden Stille besteht. Theoretisch hat damit eine lange Tradition geendet, in der Praxis wird jedoch fleißig weiterkomponiert.

Die zwingende Folge: Die Szene der zeitgenössischen E-Musik ist ein nach außen hermetisch geschlossenes System; eine bizarre Weltraumsonde, die sich Lichtjahre von der Erde entfernt hat und deren Funksprüche niemand mehr empfangen kann. Nicht die geringen Zuhörerzahlen sind das Problem der zeitgenössischen E-Musik. Auch Avantgarden vergangener Tage erfreuten sich zur Zeit ihres Wirkens keiner großen Anhängerschaft und wurden sogar Opfer massiver Feindseligkeiten: Schönberg und seine Schüler etwa, oder - um Beispiele aus anderen Bereichen zu nehmen - die Surrealisten oder die Dadaisten. Rückblickend steht deren großer Einfluß jedoch außer Frage: Schönberg hat das letzte Kapitel der E-Musikgeschichte eingeläutet, Surrealismus und Dadaismus haben in Kunst, Literatur bis hin zu Design und Mode ihren Niederschlag gefunden.

Von der zeitgenössischen E-Musik hingegen geht nicht der geringste Impuls aus. Was auch immer in der E-Musik-Szene geschieht, die Gesellschaft bleibt davon unberührt - und das in einer Zeit, in der Musik gegenwärtiger ist als je zuvor: Die Klassik boomt, bei aller Skepsis, den man Auswüchsen wie den Drei Tenören oder dem Geigen-Girlie Vanessa Mae entgegenbringen muß. Die Popmusik ist populärer denn je, noch nie waren so viele verschiedene Stilrichtungen zugleich präsent. Hierzulande sind per Kabel gleich zwei Fernsehsender zu empfangen, die ausschließlich Musikvideos zeigen, nämlich Viva und MTV.

Auch eine lebendige musikalische Avantgarde gibt es, allerdings pulsiert diese weitab von den halbleeren Konzertsälen diverser E-Musikfestivals. Die großen musikalischen Impulse gehen heute von der elektronischen Tanzmusik aus: dem ekstatischen Techno, dem groovigen House oder dem psychedelischen Ambient. Musikalisch prägen diese Musikstile die neunziger Jahre, das mit ihnen verbundene Lebensgefühl hat in vielen Bereichen unserer Kultur Einzug gehalten. Der Stern von Techno und seinen Varianten ist zwar derzeit im Sinken begriffen (es sieht so aus, als würde ihm Drum'n'Bass mit seinen hektischen Rhythmen den Rang ablaufen), doch ein Platz in der Musikgeschichte ist dieser Musik sicher. Sogar einige zeitgenössische E-Musik-Komponisten haben die Kraft und Bedeutung dieser Musik erkannt und sich in ihrem Schaffen damit auseinandergesetzt.

Zumindest in eine Richtung funktioniert der Funkverkehr zwischen der Welt und den E-Musikern anscheinend noch. Ob es ihnen jemals gelingen wird, ihrerseits Signale zur Erde zu senden? Hallo, ihr da oben! Bitte auf eine Frequenz schalten, die wir hier unten empfangen können!

Hörgänge - Komponieren in Österreich 1998 20. März bis 1. April Wiener Konzerthaus Information unter (01) 712 46 86 0, Karten unter (01) 712 12 11 *) Insgesamt, so schätzen die Organisatoren, besuchen jährlich 6.500 bis 8.000 Menschen die "Hörgänge".

Buchtip: Das Standardwerk Sogar Kulturstaatssekretär Peter Wittmann, profunder Kenner der heimischen Kunstszene, war zur Präsentation des "Lexikons zeitgenössischer Musik aus Österreich" des music information center austria (mica) gekommen: Dem Publikum wurde ein umfassendes, 1.100 Seiten starkes Nachschlagewerk vorgestellt, das selbst für eingefleischte E-Musik-Fans noch einiges an Neuem enthält - ein Standardwerk, das auch international neue Maßstäbe setzt.

Insgesamt sind 424 Komponisten und Komponistinnen, die zwischen 1914 und 1972 geboren wurden, mit ausführlichen Lexikonartikeln vertreten. Rund 230 Komponisten, die vor dem ersten Weltkrieg geboren wurden - darunter so bekannte Namen wie Alban Berg, Ernst Krenek, Gustav Mahler und natürlich Arnold Schönberg - werden in einer 150 Seiten langen Vorgeschichte abgehandelt.

In das Lexikon aufgenommen wurden Künstler mit Geburts- oder Wohnort in Österreich (einschließlich Südtirol), die zumindest einen (wohldefinierten) minimalen Bekanntheitsgrad erlangt haben und sich nicht vorwiegend Volksmusik, Jazz, Pop oder Rock widmen.

Lexikon zeitgenössischer Musik aus Österreich. Komponisten und Komponistinnen des 20. Jahrhunderts Hg. von Bernhard Günther, music information center austria 1997, ca. 1.100 Seiten, geb., öS 690.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung