Kein Prager Frühling

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Warum Jan Sokol, Dissident und Katholik, Philosoph und Moralist, nicht Präsident wurde.

Letzte Februartage in Prag. Die Stadt: Renoviert und mondän, die internationalen Modemarken haben in den hundertjährigen Jugendstilbauten ihre Geschäfte etabliert. Zu Mittag gibt der Nebel den Blick auf den Hradschin frei, den Václav Havel vor wenigen Wochen verlassen hat. In der ÇCerna, der Schwarzstraße, zentrumsnah, aber versteckt, diskutiert man in der Protestantischen Fakultät über Menschenrechte. Die Szene ist gleichfalls international, die Konferenzsprache Englisch. Der siebzigjährige Kirchenhistoriker Jakub S. Trojan berichtet vom tschechischen Beitrag zu den europäischen Freiheitsrechten, den Europa mit Vorliebe ignoriert hat. Jan Hus wurde verbrannt, die protestantische Emanzipation von den Habsburgern in der Schlacht am Weißen Berg zerschlagen, der Ausgleich nach dem ungarischen Modell von 1867 mit den Slawen der Donaumonarchie versäumt. In der Zwischenkriegszeit der faschistischen Regime war die Tschechoslowakei eine Oase der Demokratie und wurde verraten, wie Jan Hus Jahrhunderte davor. Und niemand hat geholfen, als die Russen den Prager Frühling niederwalzten.

Pragmatismus erwünscht

Die Erinnerung an Missachtung und Unterdrückung ist noch frisch, Geschichte ist gegenwärtig in persönlichen Schicksalen. Trojan schrieb ein Buch über seine Erfahrungen im kommunistischen Gefängnis, über Verhöre und Zellengenossen. Es ist nicht leicht, vom Erlebten zu reden, sagt Trojan, noch schwerer, es einer nächsten Generation zu vermitteln. Ladislav Hejdánek lehrt Philosophie und erinnert sich an die Denkschulen in Privathäusern unter Bedrohung kommunistischer Spitzel. Die amerikanischen Konferenzteilnehmer bewundern den Mut der Dissidenten; wozu allerdings Philosophie gut sein soll, verstehen sie nicht; Menschenrechte seien eine Frage der praktischen Politik. Das kommt dem wachsenden tschechischen Pragmatismus entgegen. Der ist nützlicher für das Geschäftsleben und macht ein gewisses Maß an Korruption tolerabel.

Die Dissidenten dagegen sind hoffnungslose Moralisten. Hejdánek zitiert Jan PatoÇcka, den bedeutendsten tschechischen Philosophen des 20. Jahrhunderts. Er war gemeinsam mit Havel und JiÇrí Hájek der erste Sprecher der Charta 77 und überlebte ein Polizeiverhör nicht. Seine Studenten versteckten seine Schriften in einer Nacht- und Nebelaktion, bevor die Staatspolizei auftauchte. Jan Sokol, Philosoph und Dekan der von ihm gegründeten humanwissenschaftlichen Fakultät, ebenfalls Unterzeichner der Charta 77, ist der Schwiegersohn PatoÇcka. Wir treffen ihn in einer Pizzeria, wenige Schritte vom Österreichischen Kulturforum in der Jungmannova. Er kommt gerade von seiner Präsentation vor der sozialdemokratischen Parlamentsfraktion, er wurde einstimmig zum Regierungskandidaten für die Präsidentenwahl bestellt. Er scheint gute Chancen zu haben.

Dann ein Zwischenspiel. Zum dritten Mal findet der Österreicher-Ball statt. Sein Motto: "Walzertraum". Getanzt wird im neoklassizistischen Palais ÇZofín auf der Moldauinsel nahe dem Nationaltheater. Sogar Ministerpräsident Spidla gibt sich die Ehre und sitzt zwei Stunden am Tisch des österreichischen Botschafters, gemeinsam mit Erhard Busek. Die Wiener Regierungsverhandlungen mit den Grünen sind gerade gescheitert. Spidla regiert in Prag mit einer hauchdünnen Mehrheit und macht sich Hoffnungen auf die Wahl Sokols. Freilich: Sokol, Dissident und Katholik, Philosoph und Moralist, würde es nicht leicht haben. Aber die Chancen scheinen intakt.

Erinnerung stört

Katholiken sind seit der Gegenreformation in Böhmen zugleich siegreich und verdächtig. Kein postkommunistisches Land zählt heute so viele Konfessionslose wie Tschechien. Die Regierung ist nicht gewillt, die enteigneten kirchlichen Besitzungen zurückzugeben, während die Bischöfe durch das Beharren darauf ihr öffentliches Image schädigen. Bis in diese Tage war die Katholische Fakultät in Prag von den Mitläufern der gestürzten Regimes besetzt, Frauenstudium und ausländische Literatur waren untersagt, das Zweite Vatikanum hatte noch nicht stattgefunden. Nachdem der Fakultät Prüfungs- und Promotionsrechte entzogen worden waren, brachte der Februar 2003 die Wende. Eine kleine samtene Revolution, um ein Jahrzehnt zu spät.

Die Speisekarten der Restaurants und Cafes in der Innenstadt haben auch deutsche Seiten, den Touristen zuliebe. Im Café Evropa am Wenzelsplatz, diesem Prunkstück des Jugendstils, haben einige deutschsprachige Aufschriften das Ende des Kriegs überlebt. Die Vertreibung der Deutschen war eine von den Alliierten gebilligte Maßnahme des tschechischen Selbstschutzes. Wie diese Vertreibung allerdings geschah, wie sie zur Lynchjustiz an Unschuldigen mit an die 40.000 Toten ausartete, nannte Sokol vor Jahren "schändlich". Das war ein Fehler. Moral ist stets ein Fehler, wenn sie nicht populistisch verwertbar ist.

Wo Erinnerung unumgänglich ist, wird sie pragmatisch genutzt. Noch besser, man erinnert sich gar nicht. Beim Ballgeplauder im Walzertraum erreichte uns eine aufschlussreiche Nachricht: Für eine gemeinsame Tagung österreichischer und tschechischer katholischer Akademiker wurde ein prominenter Referent vorgeschlagen, aber von tschechischer Seite abgelehnt: Der sei ein Dissident gewesen, die wünsche man nicht mehr, sie erinnern an die kommunistische Zeit, die endlich vorbei sei. Und genau so sollte der Monat zu Ende gehen.

Dissidenten irritieren

Václav Klaus wurde mit einer Stimme Mehrheit neuer Präsident. Ihn unterstützten die Kommunisten mit dem Argument: Mit dem Philosophieren auf der Prager Burg müsse es ein Ende haben, und mit dem Moralisieren über 1945 schon gar. Noch ragen die Schicksale der Dissidenten in die Gegenwart und irritieren die Gewissen derer, die sichs rechtzeitig gerichtet haben. Jan Palach, der sich 1968 am Wenzelsplatz verbrannt hatte, darf noch geehrt werden. Nur tote Dissidenten sind gute Dissidenten.

Die Geschichte der christlichen Märtyrer liefert dazu einleuchtende Beispiele. Daher geschah es am letzten Tag des Februar: In Wien wurde die neue schwarz-blaue Regierung angelobt, in Prag brach eine andere Zeit an. Jan Sokol unterlag "unerwartet, aber nicht eigentlich überraschend", wie die Neue Zürcher Zeitung treffend befand. Was die Dissidenten erkämpft hatten, wird nicht mit Panzern niedergewalzt, keineswegs. Die Methoden sind demokratisch, die Mehrheit ist dafür. An den Abhängen des Hradschin treiben zwar die Bäume aus, aber der Prager Frühling ist ein Traum von gestern.

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