Keine Frage des Lesealters

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"Jugendliteratur“ ist nicht mehr nur das, was mit dem Hinweis "Ab 14 Jahren“ markiert ist. Auch ästhetisch und thematisch wurden Grenzen gesprengt.

Wenn diese Woche die Buchmesse in Leipzig stattfindet, werden sich die mit der größten Spannung erwarteten Ereignisse einmal mehr um die Vergabe von Buchpreisen drehen. Aus dem Blick der Jugendbuchszene wird das die Bekanntgabe der Nominierungsliste für den Deutschen Jugendliteraturpreis sein. Je sechs Bücher werden in den Kategorien Bilderbuch, Kinderbuch, Jugendbuch und Sachbuch genannt. Wie immer wird danach hitzig darüber diskutiert werden, welche der nominierten Bücher nicht, welche nicht nominierten Bücher aber sehr wohl auf die Liste gehört hätten. Und wie immer werden die "Ausreißer“ die meiste Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Gemeint sind damit jene Bücher, die die Grenzen der jeweiligen Kategorien sprengen: Eine Graphic Novel, die als Bilderbuch nominiert wird, obwohl sie über das Erwachsenwerden im jugendkulturellen Umfeld erzählt. Oder ein als Jugendbuch nominierter Roman, der zwar über Kindheit erzählt, seinen Weg jedoch aus dem Erwachsenenprogramm eines Verlages auf die Nominierungsliste gefunden hat.

Jugendliteraturbegriff erweitern

Im vergangenen Jahr war es Tamta Melaschwilis ebenso eindringlicher wie knapp erzählter Roman "Abzählen“, der in seiner Übersetzung aus dem Georgischen nicht nur nominiert, sondern auch in der Kategorie Jugendbuch zum Preisbuch wurde. Eine beliebige Entscheidung? Der sprachlich artifiziell gestaltete Roman greift das Erleben von drei 13-jährigen georgischen Mädchen auf und erzählt schonungslos aus deren Perspektive. Doch er wurde im Unionsverlag und nicht unter dem Label der Jugendliteratur veröffentlicht. Der Deutsche Kinder- und Jugendliteraturpreis jedoch hätte - so die kritischen Stimmen - die Aufgabe, die Entwicklungen eines ganz spezifischen literarischen Subgenres abzubilden und nicht exemplarisch auf allgemeinliterarische Werke zu verweisen. Auch dann nicht, wenn zahlreiche dieser Werke das Erwachsenwerden in ganz unterschiedlichen erzählerischen Varianten thematisieren. In Österreich hat diese Diskussion stattgefunden, als Paulus Hochgatterers Adoleszenzroman "Wildwasser“ 1998 mit dem Österreichischen Kinder- und Jugendbuchpreis ausgezeichnet wurde. Hochgatterer selbst hat den Diskurs seiner Werke im Kontext der Jugendliteraturkritik und Jugendliteraturforschung niemals als Qualitätsminderung seines Werkes begriffen.

Längst hat die Jugendliteraturkritik die hermetischen Grenzen solcher literarischen Zuordnungen gesprengt. Einerseits wird nicht mehr nur das als Jugendliteratur verstanden, was in Kinder- und Jugendbuch-Verlagen explizit für ein junges Lesepublikum publiziert wird. Vielmehr sind im Sinne eines erweiterten Jugendliteraturbegriffs all jene Werke gemeint, die Jugend, Jugendlichkeit oder Adoleszenz thematisieren. Andererseits inkludieren die Programme von Kinder- und Jugendbuchverlagen auch Werke, die gerade durch ihren literarischen Innovationscharakter, ihre grafische Gestaltung oder thematische Radikalität die Grenzen dessen überschreiten, was gemeinhin als geeignet für Kinder und Jugendliche gilt und sich an die Interessen altersunabhängiger Zielgruppen richtet. Zumal gerade diese Zielgruppen sich nicht mehr penibel voneinander abgrenzen, sondern das Lesepublikum gerade in den letzten beiden Jahrzehnten zunehmend lustvoll Grenzüberschreitungen erprobt. Insbesondere die zahlreichen Spielarten literarischer Phantastik, die sich in der Nachfolge der ebenso erfolgreichen wie differenziert gestalteten Harry-Potter-Serie etabliert haben, erfreuen sich bei Jugendlichen und Erwachsenen gleichermaßen an Beliebtheit.

Als Jostein Gaarders Philosophieroman "Sofies Welt“ in den frühen 1990er-Jahren die Bestsellerlisten stürmte, galt das noch als Sensation. Ein Jugendbuch, das über das hübsch umzäunte Areal von Schule, Bibliothek und Leseklub hinaus breite Öffentlichkeit erlangt; das im Feuilleton besprochen wird, als hätte es tatsächlich auch als Jugendbuch literarischen Wert; das als Jugendbuch in Bestsellerlisten aufgenommen werden muss. Die Irritation war spürbar, der Begriff des literarischen Phänomens erhielt Breitenwirkung.

All-Präsenz der Jugendliteratur

Dennoch: Gerade die Fallhöhe zwischen der Jugendliteratur und dem ihr unterstellten Probebühnen-Charakter ermöglichte es erwachsenen Lesern, sich beruhigt der Wissensaneignung auf dem Niveau der literarischen Einfachheit hinzugeben - schließlich liegt die Zugänglichkeit des Textes in seinem genrespezifischen Wesen und nicht im Verständnishorizont seiner Leser begründet. Wissentliche Unterforderung schien Teil des Arrangements, wenn in der Jugendliteratur fremdgegangen wird.

Auch der beginnende Erfolg von Harry Potter fand noch unter diesen Vorzeichen statt. Die Leser wurden als wortwörtlich "verzaubert“ deklariert, wenn sich die Medienwelt an der Schwelle zur Globalisierung der Verzückung durch ein Kinderbuch hingab. Mit der Komplexität von Joanne K. Rowlings Romanwelt jedoch stieg auch die Heterogenität der Leser und Harry Potter wurde zu einem verbindenden Moment zwischen erwachsenen und jugendlichen Lektüreinteressen. Erntete man vor den Harry-Potter-Romanen als Jugendliteraturkritikerin nur ein freundlich interessiertes "Ach!?“ auf die Offenlegung der beruflichen Tätigkeit, bevor sich das Gegenüber entschuldigend absetzte, war man danach plötzlich der Partyknüller. Die zunehmende Bekanntheit von Cornelia Funke oder die genderspezifisch determinierte Ablehnung von oder Begeisterung für die Twilight-Serie reihten sich nahtlos in die neue Erfahrung der All-Präsenz von Jugendliteratur.

Der Literaturbetrieb reagierte mit entsprechenden Angeboten und lancierte das Label der All-Age-Literatur. Im engeren Sinn ist darunter nicht Literatur zu verstehen, die von Lesern unterschiedlicher Alterszugehörigkeit gelesen wird, sondern die schon in ihrer Textgestaltung und ihrem Erzählen bewusste Signale für beide Zielgruppen platziert. Sowohl die erwachsene, als auch die jugendliche Lebenswelt finden Eingang in All-Age-Literatur: Erwachsenes und jugendliches Erleben entfalten sich im Erzählen aneinander, beeinflussen einander, stellen einander in Frage.

Unterschiedliche Ausgaben

Die Marketingstrategen hielten die Trennung der Zielgruppen der Jugendlichen und der Erwachsenen noch lange aufrecht. Die Harry-Potter-Bücher wurden noch in einer Ausgabe für Erwachsene herausgebracht, um Lesern die Peinlichkeit zu ersparen, in der U-Bahn mit einem Kinderbuch erwischt zu werden. Heute versagen sich nur noch Hardcore-Ignoranten die Lektüre der "Hunger Games“ aus Angst, dadurch als zu kindisch zu gelten. Dennoch blieb das Image der Jugendliteratur durch all diese Entwicklungen seltsam unangetastet. Wenn ein Autor wie David Safier heute einen Roman veröffentlicht, in dem das Warschauer Ghetto als Kulisse einer actiongeladenen Fluchtgeschichte dient, wird mit großem Werbeaufwand eine Publikation des Romans in unterschiedlichen Ausgaben für Jugendliche und Erwachsene promotet. Weswegen? Um jene Eignung für beiderlei Zielgruppen anzuzeigen, die sich unter den Leserinnen und Lesern längst etabliert hat? Um die attestierte literarische Qualität herauszustreichen, die der Roman "28 Tage“ hat, obwohl er sich auch an Jugendliche richtet? Plötzlich offenbart nicht die Jugendliteratur selbst ihren hermetischen Charakter, sondern vielmehr eine Belletristik-Szene, die scheel auf die multimediale Umtriebigkeit blickt, in deren Mittelpunkt jugendliterarische Werke stehen. Selbst die Kritiken der filmischen Adaption der "Hunger Games“ verweisen nur zurückhaltend auf die genrespezifische Herkunft des Stoffes, um den künstlerischen Anspruch der außerordentlich gelungenen Verfilmung nicht in Frage zu stellen.

Im umgekehrten Fall wird gerne die schützende Hand der Literaturkritik über Adoleszenzromane gehalten, um ihnen durch einen jugendliterarischen Diskurs nicht den schalen Nachgeschmack literarischer Minderwertigkeit zu geben. Als Jugendliteraturkritikerin jedoch wird man gerne zur Bücherdiebin, um Werke von Autorinnen wie Alina Bronsky oder Milena Michiko Flasˇar auch und besonders unter dem Blickwinkel einer Literarisierung jugendlichen Erlebens zu lesen - und dabei die Vielfalt jugendkultureller und medialer Einflüsse auf Literatur zu entdecken.

* Die Autorin ist Leiterin der Studien- und Beratungsstelle für Kinder- und Jugendliteratur in Wien

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