Keine Friedensglocken für Anne Frank

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Melissa Müller hat das Leben Anne Franks, ihrer Familienmitglieder, Freundinnen und Freunde mit größter Sorgfalt noch einmal recherchiert.

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Melissa Müller hat das Leben Anne Franks, ihrer Familienmitglieder, Freundinnen und Freunde mit größter Sorgfalt noch einmal recherchiert.

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Still! Kein lautes Wort mehr! Wer ist noch im Badezimmer? Der Wasserhahn läuft immer noch. Jetzt bloß nicht mehr die Spülung ziehen. Leise, leise. Seid nicht so unvorsichtig. Psst. Nach zwei Jahren könntet ihr doch wirklich wissen... Nachttöpfe ausleeren. Betten zurückschieben. Schuhe ausziehen! Die Glocken läuten schon!" Die Glocken, die läuten, sind nicht die Friedensglocken. Die Glocken läuten täglich für die Versteckten in der Prinsengracht 263, mehr als zwei Jahre lang, und warnen zur Vorsicht, denn um halb neun kommen die Lagerarbeiter, und dann muß es still sein.

So eindrucksvoll beginnt Melissa Müller ihre Anne-Frank-Biographie. Das Tagebuch Anne Franks zählt zu den meistgelesenen literarischen Dokumenten über die Verbrechen der Nationalsozialisten, und das halbwüchsige Mädchen erfüllt alle Voraussetzungen, als Mythos in die Geschichte des 20. Jahrhunderts einzugehen. Sie ist eine legendäre Gestalt, der große Zuwendung entgegengebracht wird. Mehreren Millionen Jugendlichen und Erwachsenen in der ganzen Welt hat sie mit ihrem Werk die Grausamkeit des Nationalsozialismus erschlossen, weil sie ohne Überblick, aus der eingeschränkten Perspektive ihres Verstecks und einer noch heute unmittelbar wirkenden Persönlichkeit, ihr Leben und ihr Hoffen auf Rettung beschrieben hat. Wer zu lesen beginnt, weiß um ihr Ende, zittert dennoch mit und hegt die illusionäre Hoffnung auf Überleben. Diese Funktion, die ihrem Tagebuch seit dem ersten Erscheinen 1947 bis heute zukommt, enthebt die reale Person einer wissenschaftlichen Betrachtung, erschwert diese, fordert sie andererseits aber geradezu heraus, weil ob der Bedeutung ihrer Aufzeichnungen durch Jahre hindurch Neonazis immer wieder an der Authentizität des Textes zweifelten.

Die neue Arbeit über Anne Frank zeigt aber auch, wieviele Bereiche dieser historisch bedeutenden Figur bislang unerforscht geblieben sind, bis hin zur Geschichte ihrer Mutter. Daß in die Biographie auch fünf unveröffentlichte Blätter des Tagebuches eingearbeitet wurden, verlieh dem Buch einen besonderen Nimbus, der jedoch in keinem Verhältnis zur tatsächlichen Bedeutung dieser Seiten steht.

Der Autorin Melissa Müller ist die Aufregung um ihr Buch nicht vorzuwerfen, denn sie spekuliert nicht mit dem Besonderen. Ihr Bemühen ist es, die Geschichte der Familie nachzuzeichnen, den oft fragmentarischen Blick Annes "durch einen Gesamtblick von außen" zu erweitern, "viele Mosaiksteinchen zu sammeln und zu einem möglichst authentischen Bild von Annes kurzem Leben zusammenzusetzen, ihre familiären Wurzeln ebenso wie das gesellschaftliche Umfeld zu erforschen, auf denen ihr Leben aufbaute". Im Mittelpunkt der bisher unter Verschluß gehaltenen Blätter steht das Verhältnis von Anne zu ihrer Mutter, die von der Pubertierenden scharf bis zur Ablehnung geschildert wurde, und das Verhältnis der Eltern zueinander: "Für mich ist Mutter keine Mutter; ich selbst muß meine Mutter sein." Oder: "Sie verstand mich nicht, das ist wahr, aber ich verstand sie auch nicht". Es sollte wohl nicht sein, daß die zum Symbol der Diskriminierten in einer Welt der Gewalt und Unfreiheit Stilisierte ihre Schwester als Miststück bezeichnete und in einer Familie aufwuchs, die vielleicht doch nicht so harmonisch war, wie es den Anschein hatte. Otto Frank entschied nach dem Krieg, daß Annes Kommentare zur Ehe der Eltern die Öffentlichkeit nichts angingen, nachdem seine Frau Edith im Todeslager Auschwitz-Birkenau umgekommen war. Nicht jeder ist eben wie der amerikanische Autor Philipp Roth, der seine persönliche Geschichte zum Mittelpunkt erhebt, um den die Welt kreist und der die Grenzen zwischen Fiktion und Realität aufhebt und ständig verschiebt.

Melissa Müller wertet nicht und gelangt zu dem Urteil, daß die bislang unveröffentlichten Passagen letztlich auch das wachsende Verständnis der Tochter für die Mutter protokollieren. Sie folgt auch den Spuren und Charakteren der Freunde der Franks in aller Welt. Da ist zum Beispiel Hello Silberberg, ein früher Verehrer Annes, der genauso lang versteckt lebte und der die alliierten Panzer heranrollen sah, während Anne mit ihrem Vater zusammengepfercht im Zug von Westerbork nach Auschwitz fuhr. Der Wunsch, bisher Vernachlässigtes zu dokumentieren, bedingt natürlich die Schilderung einer Fülle von Personen und Schicksalen, die nicht immer so plastisch geschildert werden können, wie man es sich wünschen würde.

Im März 1945 stirbt Anne Frank im Konzentrationslager Bergen-Belsen. Vor ihrem Tod trifft sie noch ihre Freundin aus Kindertagen, Hanneli Goslar, mit der sie in den Monaten vor dem Untertauchen keineswegs nett umgegangen war. Eine kurze Mädchenfeindschaft eben, wie bei Pubertierenden üblich. In ihrem Tagebuch hat sie bereits die Reue erfaßt, nachdem Hanneli mit ihrer Familie bereits deportiert wurde, und hat die Begegnung vorweggenommen, die im März 1945 tatsächlich stattfinden sollte: "Es war gemein von mir, wie ich mit ihr gehandelt habe, und jetzt schaute sie mich, mit ihrem blassen Gesicht und ihren flehenden Augen, oh so hilflos an." Kleinlich erscheinen der Streit und die Dinge, die das Mädchen, bevor die Nazis ihr Leben regierten, gestört haben. Diese Unmittelbarkeit und diese Reife der Selbstkritik sind es auch, die bis heute berühren. Hanneli Goslar überlebte, Anne Frank hörte keine Friedensglocken.

Der Epilog ist als Sammlung der Biographien konzipiert und erinnert auch an die mißglückten Versuche, den Verräter oder die Verräterin Anne Franks und ihrer Eltern ausfindig zu machen.

Das Mädchen Anne Frank Die Biographie - Von Melissa Müller Claassen Verlag, München 1998 448 Seiten, geb., öS 291,

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