Keine Grenzen des Darstellbaren

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Gehörlosentheater basiert auf der Gebärdensprache. Ein Gehörlosentheaterfestival in Wien bietet die Möglichkeit, diese faszinierende Kultur kennenzulernen.

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Gehörlosentheater basiert auf der Gebärdensprache. Ein Gehörlosentheaterfestival in Wien bietet die Möglichkeit, diese faszinierende Kultur kennenzulernen.

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Es ist eine kleine Sprache, aber die wichtigste Sprache der Welt. Man kann sie nämlich sehen", sagt Dietmar Jäger über die Gebärdensprache. Er ist hörender Produktionsleiter und Schauspieler von "Arbos". Diese "Gesellschaft für Musik und Theater" veranstaltet heuer in Wien das zweite europäische und internationale Gehörlosentheaterfestival. "Die Gebärdensprache ist die optimale Sprache fürs Theater. Sie ist die Sprache im Raum." Die Muttersprache der Gehörlosen mit ihrer einheitlichen Grammatik ist in allen Ländern verständlich, sie unterscheidet sich nur in Dialekten und national verschiedenen Temperamentsäußerungen. "Wir Österreicher sind nobel-distinguiert, die Italiener viel lebhafter", sagt der gehörlose Schauspieler Horst Dittrich.

In Österreich war die Gebärdensprache lang diskriminiert, sie musste sich im Untergrund weiterentwickeln, trotzdem entstanden Laientheatertruppen. "Als ich in die Schule ging, wurde uns Gehörlosen das Lippenlesen aufgezwungen. Ich habe selbst erlebt, dass mir auf die Finger geschlagen wurde, wenn ich versuchte, in der Gebärdensprache zu kommunizieren", erzählt Dittrich mit fliegenden Händen und sprechender Mimik. Zu 70 Prozent spricht der Gesichtsausdruck, 30 Prozent ergänzen die Hände, von Scheitel bis Körpermitte dient alles der Kommunikation. "Wenn ich nur den Kopf eines Menschen ansehen würde, verstünde ich nichts. Hände, Gestik und Mundbild, alles muss man gemeinsam beachten", erklärt er die Lesart der Gebärdensprache.

1992 gründete Dittrich mit dem hörenden Regisseur Herbert Gantschacher das erste professionelle österreichische Gehörlosentheater, vorher wurde ein Jahr intensiv trainiert. Workshops und internationaler Austausch mit anderen Ländern waren sehr wichtig. In puncto Gehörlosentheater hat die Kulturnation Österreich viel aufzuholen. Grenzen des Darstellbaren gibt es keine.

Viel aufzuholen In Ausbildung, Können, Erfahrung und Tradition nimmt Russland weltweit eine Vorreiterrolle ein. Am "National Specialized Institute for the Arts" in Moskau gibt es professionelle künstlerische Ausbildung für gehörlose Darsteller. Bühnenbild, Kostüm und darstellende Kunst können dort von Gehörlosen erlernt werden, gelehrt wird nach der Methode des russischen Theoretikers Jewgenij Wachtangow, der von 1883 bis 1922 lebte und den "phantastischen Realismus" im Theater einführte.

Schillers Klassiker "Kabale und Liebe" und "Auf Wiedersehen zwanzigstes Jahrhundert" wird die Gruppe heuer in Wien zeigen. Auch das tschechische Gehörlosentheater wagt sich an großen Stoff: "Odyssea" nach Homer. Wie sich das Theater in den USA entwickelt hat, lässt sich bei "Road Signs" erleben.

Das "Theater des Augenblicks" ist der ideale Spielort für eine Theaterform, die vor allem auf das Visuelle setzt. Elemente des Bewegungstheaters, Tanz, Musik und Freude am Experiment sind wesentliche Eckpfeiler des Gehörlosentheaters. Über 60 gehörlose Künstler aus sieben Ländern werden heuer in Wien gastieren und von 30. März bis 7. April elf Produktionen vorstellen.

"Die Fremden", eine Uraufführung durch Arbos, macht den Anfang. Ein politisch brisantes und dramaturgisch anspruchsvolles Stück des bosnischen Autors Dzevad Karahasan. Ein Fremder kommt in den Westen, um reich und berühmt zu werden. "Wenn Du einen Menschen tötest, bist du ein Verbrecher, wenn du jedoch viele Menschen tötest, bist Du entweder ein Held oder ein Patient", verführt ihn ein rätselhafter Agent oder Schutzengel zum Massenmord. Der Fremde wird berühmter Künstler, er hat das Wesen unserer Zeit verstanden: Geld machen. Als er sich umbringt, muss sich der Agent ein neues Opfer in der Fremde suchen. Bedingung der Aufführung ist ihre Zweisprachigkeit, gespielt wird in Bosnisch und der Gebärdensprache. "Ein viel feineres, schöneres Mittel, als das in Deutsch zu übersetzen", freut sich Herbert Gantschacher. Musik spielt eine wesentliche Rolle, neben dem gehörlosen Schauspieler Werner Mössler tritt die hörende Kollegin Marina Spitzer auf.

Das Spektrum des Gebotenen reicht vom Klassiker über Kindertheater bis zum Absurden: eine Farce von Dario Fo und Franca Frame "Nur Kinder, Küche, Kirche" gewinnt durch die Darstellung des männlichen Gehörlosen Ramesh Meyyappan zusätzlich Brisanz und Nachhaltigkeit. Er spielt auch Dario Fos "Mistero Buffo".

Zum Thema: Roma-Theater Zigeunerromantik ist nicht die Sache des 1971 gegründeten Roma-Theaters Pralipe (Romanes:"Brüderlichkeit"). "Z.2001: Die Tinte unter meiner Haut" erzählt vom Völkermord an Sinti und Roma in der Zeit des Dritten Reiches.

Sova, eine Greisin von 4.865 Jahren, führt durch den Abend, sie ist die Brücke zwischen Geschichten, Personen, Schatten und Szenen. Nicht der Tod, vor allem Liebe und Leben stehen im Vordergrund. Inszeniert hat Rahim Burham das ungewöhnliche Stück in Stationen, als Mischung aus Theater, Live-Musik und Ausstellung, die sich durch die weitläufige Halle 5 des Wiener Kabelwerks in der Oswaldgasse 23 ziehen. IM 29. bis 31. März, 20 Uhr.

Karten: 01/960-96

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