Keine langweilige Gipsheilige

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Die erste Biographie der Pädagogin Genia Schwarzwald, ein Beitrag zur österreichischen Kulturgeschichte der Zwischenkriegszeit.

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Die erste Biographie der Pädagogin Genia Schwarzwald, ein Beitrag zur österreichischen Kulturgeschichte der Zwischenkriegszeit.

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Mehr als 40 Jahre nach ihrem Tod im Exil in der Schweiz liegt nun die erste Biographie der Pädagogin Genia Schwarzwald vor, der leider noch immer nicht jene Wertschätzung entgegengebracht wird, die ihr zukäme.

Es gibt wohl wenige Persönlichkeiten im Wien der zwanziger und dreißiger Jahre, die für sich in Anspruch nehmen können, unter anderem sowohl in den "Letzten Tagen der Menschheit" von Karl Kraus karikiert worden zu sein wie auch in Robert Musils "Mann ohne Eigenschaften" eine Spur hinterlassen zu haben. Eugenie Schwarzwald, die in Wien zwischen 1901 und 1938 zu den bekanntesten Frauen der Stadt gehörte, genoß dieses Privileg, und ihre vielfältigen Aktivitäten scheinen nur in Form von Erwähnungen in den Erinnerungen der Schriftsteller überlebt zu haben: bei Elias Canetti kommt sie ebenso vor wie bei Hilde Spiel, in Friedrich Torbergs "Tante Jolesch" ebenso wie bei Jakob Wassermann oder bei Egon Friedell und Peter Hammerschlag.

Eugenie Schwarzwald erlitt also ein für Frauen typisches Schicksal - sie wurde vergessen. In ihrem Salon trafen sich in den zwanziger und dreißiger Jahren Persönlichkeiten der österreichischen und europäischen Geistesgeschichte, ihre Schule formte hunderte Schülerinnen, die von ihr organisierten Ferienkolonien waren für Kinder und Jugendliche Inseln der Fröhlichkeit und koedukativen Gemeinsamkeit und prägten Burschen und Mädchen. Ihre Villa Seeblick am Grundlsee war die Sommerheimat für Menschen mit unterschiedlichsten Meinungen und ihre Sozialprogramme und Suppenküchen kamen kurz nach dem Ersten Weltkrieg bedürftigen Schriftstellern ebenso zugute wie Schulkindern. Renate Göllner hat in jahrelanger Arbeit viele Spuren, die "Fraudoktor" hinterlassen hat, aufgespürt und auch jenes Material gesichtet, das Hans Deichmann in mühevoller Kleinarbeit zusammengetragen und das sich zu einem nicht unbedeutenden Archiv ausgewachsen hat.

Doch Göllner geht es nicht bloß nur um eine Dokumentation der Aktivitäten, sondern auch um eine Einordnung von "Fraudoktor", wie sie von ihren Anhängerinnen und Anhängern genannt wurde, in das gesellschaftliche und kulturelle Leben der Zwischenkriegszeit. Aus Genia Schwarzwald wird so keine langweilige Gipsheilige, sondern eine widersprüchliche und komplizierte Gestalt, die ihre Umgebung polarisiert hat: "Gleichermaßen erfuhr sie Achtung und Bewunderung auf der einen Seite, Ablehnung, Spott und Anfeindung auf der anderen."

Ein wesentlicher Grund dieser widersprüchlichen Reaktionen lag sicherlich auch darin, daß sie sich weder durch ihr Aussehen noch durch ihre Art dem gängigen Weiblichkeitstypus der Jahrhundertwende anpaßte. "Sie eignete sich weder zur Muse, paßte nicht ins Konzept einer ,Femme fatale', und verkörperte schon gar nicht den Typus des ,Süßen Mädels'." Während sie einerseits mit ihrem von Repressionen und sinnloser Autorität befreitem Unterricht ihrer Zeit weit voraus war, plante sie auch eine Semmeringschule, der teilweise ein militaristisches und antiemzipatorisches Konzept zugrunde lag. Die Autorin hat eine Reihe von berührenden und amüsanten Spuren von Genia bloßgelegt. Zu den geistvollsten Kleinodien des Bandes zählt sicherlich Alfred Polgars und Egon Friedells Parodie auf die umtriebige Aktivistin: "Endlich sind wir im Empfangszimmer der Lenkerin all dieser Tätigkeiten. Sie sitzt inmitten von vier Schreibtischen und schafft. Eben gründet sie mit der linken Hand ein Heim für Kurzsichtige von Dioptrien 2,5 angefangen, indes sie mit der Rechten die grundlegenden Gedanken für ihre neue Schöpfung: Verwertung der Gebirgshöhlen als Turnsäle zu Papier bringt... Während die unermüdliche Frau zahllosen Fragenden und Bittenden trostreiche Bescheide spendet, rastet ihr Gehirn keineswegs. Der Gedanke einer Beteilung dethronisierter Fürsten mit Pulswärmern (sogenannten ,Stützerln') gewinnt Form und wird zwischen tausend erteilten Antworten sogleich in die Schreibmaschine diktiert."

Berührend und ernüchternd die Schwarwaldsche Bilanz im Exil kurz vor dem Tod: "In einer Welt der Ungerechtigkeit, von Kampf und Gewalt kann ... ich nicht die Heiterkeit und Seelenkraft aufbringen, die man braucht, um die Jugend glücklich zu machen."

Kein Puppenheim Genia Schwarzwald und die Emanzipation. Von Renate Göllner Peter Lang Europäischer Verlag der Wissenschaften, Frankfurt/M. 1999 230 Seiten, brosch., öS 504,-/e 36,60

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