Keine Notiz von iranischem Dokumentarfilm

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Die Dinosaurier haben die Goldene Palme gewonnen. Also die, die Terrence Malick im halbstündigen Prolog seines "Tree of Life“ um die Bäume staksen lässt. Sein Film, der in Cannes den Hauptpreis erhielt, ist aber kein "Jurassic Park“ für Arthaus-Fans und auch keine BBC-Naturdoku. Nach diesem metaphorischen Ausflug in die Entstehungsgeschichte von Welt und Mensch folgt die Geschichte einer Kindheit: Eine komplexe, subjektive Erinnerungsstruktur liegt über diesem Film, dessen virtuose Kamera stets aus der Perspektive eines Kindes erzählt.

Siegerfilm "Tree of Life“

Brad Pitt spielt einen autoritären Vater, der im Vorstadt-Amerika der 50er-Jahre seine Söhne Disziplin und Christlichkeit lehren will, selbst als einer der Söhne stirbt. Selten hat ein Film die Erinnerung an die eigene Kindheit sinnlicher eingefangen, jedoch: "Tree of Life“ ist kein Meisterwerk. Zu sehr verfängt sich Malick in der Theorie einer Ursachenforschung; Kindheit prägt, aber ist sie ausreichend als Erklärungsmuster für ein späteres Dasein? Zwischen Werbung für und Kritik an christlicher Religion als Erziehungsmaßnahme zeigt der Film den "Baum des Lebens“ wohl eher als Metapher für den Zusammenhang von Mensch, Natur, Gott und Universum. Ein nicht umfassend geglücktes Bild vom Zustand, der sich Leben nennt.

Viele Filme dieses Cannes-Jahrgangs arbeiteten sich klagvoll am menschlichen Dasein und an (unterdrückten) Sehnsüchten ab: Sei es der famose schwarz-weiße Stummfilm "The Artist“ (Darstellerpreis für Jean Dujardin), in dem ein Stummfilmstar den Wechsel zum Tonfilm nicht verkraftet, sei es die (unprämierte) österreichische Geschichte von "Michael“ (Regie: Markus Schleinzer), einem Kinderschänder, dessen Dasein von Kellerverliesen und Versteckspielen geprägt ist; sei es Aki Kaurismäkis lebensbejahendes, stoisches Lakonie-Stück "Le Havre“, in dem ein Mann trotz schwerer Schicksalsschläge selbstlos Gutes tut; oder seien es die tonnenschweren Depressionen der Hauptfigur in Lars von Triers "Melancholia“ (Darstellerpreis: Kirsten Dunst), die in Endzeitfantasie mündet: Die Welt kollidiert mit einem Planeten. Ein Sci-Fi-Szenario, doch es ist nicht der Untergang der Menschheit, den von Trier hier zeigt, sondern der eines Individuums in der eigenen Depression.

Lars von Trier hingegen kollidierte mit der Realität: Die als Provokation gedachten Hitler-Späße bei seiner Pressekonferenz ("Ok, ich bin ein Nazi“, "Ich verstehe Hitler“, "Ich mag die Juden, außer die Israelis“) führten zum Ausschluss vom Festival und bescherten einen Skandal, der von anderen bemerkenswerten Filmen ablenkte.

Für Medien zählt nur der Skandal

Von Jafar Panahis auf einem USB-Stick in einem Kuchen aus dem Iran geschmuggelten Dokumentarfilm "Das ist kein Film“ nahm fast niemand Notiz. Der Regisseur, daheim mit Berufsverbot belegt, kann keine ausdrucksstarken Bilder mehr liefern, sondern riskiert mit künstlerischem Minimalismus sein Leben. Die Medien schauten weg, weil der Skandal mehr zählt. Es ist wie bei den Dinosauriern: Solche Filme werden irgendwann ausgestorben sein.

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