Kerzenschein des Moralisten

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Karl-Markus Gauß ist eine Ausnahmeerscheinung, was er mit dem "Mann, der ins Gefrierfach wollte" aufs neue bestätigt.

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Karl-Markus Gauß ist eine Ausnahmeerscheinung, was er mit dem "Mann, der ins Gefrierfach wollte" aufs neue bestätigt.

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Besinnung hat nicht immer nur mit Kerzenschein zu tun. In diesen Tagen werden viele Kerzen entzündet, doch das Licht der Erkenntnis strahlt in wenigen Häusern. Karl-Markus Gauß entzündet es mit seinem Bändchen "Der Mann, der ins Gefrierfach wollte". Albumblätter nennt er die Sammlung seiner Essays. Skizzen mit Tiefgang, die viele dunkle Seiten unserer Gesellschaft und unseres Denkens ausleuchten. Nicht nur bei Kerzenschein kann einem wohlig ums Herz werden, auch die Lektüre schafft dies in einer Art und Weise, die nicht in der Beliebigkeit versinkt, sondern den schmalen Weg von Besinnlichkeit zu Kritik aufzeigt und auch zum Begehen einlädt. Wenn es ein Buch für die Feiertage, für die Zeit vor dem Jahreswechsel gibt, dann ist es diese Essaysammlung. Gauß erzählt Geschichten, und der Ausgangspunkt sind meist jene Fälle, die auf den Chronikseiten unserer Zeitung unter der Rubrik International zu finden sind. Da ist die Rede von 27 greisen Nobelpreisträgern, die ihr Erbgut für eine Samenbank zur Verfügung stellen, da ist von den sonderbaren Verfügungen in amerikanischen Todeszellen die Rede, wo die Pflicht regiert, gesund zu sterben, und die letzte Zigarette "an einen geheimen, einen vorletzten Ort auf Erden" verbannt wird und nicht zuletzt von einer Begebenheit um den amerikanischen Präsidenten Thomas Jefferson, der als Stammvater eines Clans von Farbigen überlebt, nachdem mit einer genetischen Analyse nachgewiesen werden konnte, daß der jüngste Sohn der Sklavin Sally von Jefferson gezeugt wurde und dessen Y-Chromosom sich "in einer Hundertschaft schwarzer Männer findet".

Der Autor beläßt es nicht beim prägnanten Erzählen der Begebenheiten, sondern er kommt immer auf den Kern, die Moral der Geschichte, ihren moralischen Nukleus. Der Weg dorthin ist zuweilen weit. Dem, der Werte und Wissen hat, können aber die Wege nicht verschlungen genug sein, um schließlich doch ins Zentrum vorzustoßen. Etwa, wenn plötzlich eine Verbindung zwischen Kaiser Maximilians Leibfeindlichkeit und den Neuen Medien entsteht. Der Cyberspace eröffnet neue Möglichkeiten, der neue Mensch lädt seine Bewußtseinsinhalte ins Internet "hinaus" und wird zu einem Engel der künstlichen Welt, ein Körperloser, der dem Tod entronnen ist.

Die Themen, von denen Gauß aufbricht, um zum Kern vorzustoßen, sind vielfältig und reichen von der Genforschung bis zum Internet, von der Massenkultur bis zum Verschwinden der Sprache. Wer die Analyse zu Elton Johns Lied beim Begräbnis von Lady Diana liest, sitzt im Kerzenschein des Moralisten: "Nein, ihre Tränen waren echt, denn ehrlich empfundene Trauer wird in der medialen Wirklichkeit gerade von der Fälschung hervorgerufen, und große Gefühle stellen sich in den Inszenierungen der Massenkultur nur dann ein, wenn die Lüge ihr Anlaß ist."

In seinen Geschichten legt er den Finger auf viele Wunden, findet aber eine Form der Kritik, die nicht daherstolziert wie jene Modekritiker des Feuilletons, die nur noch Cholera und Pest in unserem Land orten. Gauß bleibt nicht an der Oberfläche, etwa wenn er die Entschuldigungsseuche untersucht, die fast wöchentlich mit neuen Fällen grassiert, und zwar nicht nur in Kärnten: "Heute hingegen findet den größten Zuspruch, wer sich so versiert zu entschuldigen weiß, daß er, gleich was er tut, stets frei von Schuld erscheint ... Die öffentliche Bußübung der Entschuldigung ist eine nahezu schmerzfreie Ausscheidung moralischer Rückstände und leitet zähe Gefühle in der Form dünnflüssiger Sentimentalität aus."

Der Mann, der ins Gefrierfach wollte. Von Karl-Markus Gauß. Verlag Paul Zsolnay, Wien 1999. 120 Seiten, geb., öS 197,-/e 14,31

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