Kickende Erben der gemeinsamen Geschichte

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Einst war Lemberg die Hauptstadt Galiziens. Heute ist Lwiw das geografische Herz der EURO 2012. Ein kleiner | Fußballklub will die multikulturelle Vergangenheit der Stadt wieder leben. Eine etwas andere Sport-Reportage.

Stolz blättert Marek Horban, der 28-jährige Vorsitzende des Fußballclubs Pogon´ Lwów, in der Vereinschronik. Die Ursprünge des Clubs gehen auf das Jahr 1904 zurück. Zu dieser Zeit gehörte Lwiw, damals Lwów, zu Polen. Seit 1907 existiert Pogon´ Lwów als Fußballverein, in dem Polen, Ukrainer und Juden gemeinsam spielten. Auf einer Clubversammlung in den 1920er Jahren, als Antisemitismus in der Stadt aufkeimte, beschlossen die Spieler, ihre jüdischen Kollegen nicht auszuschließen. Bis 1939 wurde Pogon´ Lwów fünfmal polnischer Meister. Mit der sowjetischen Besetzung der Stadt kam jedoch das Aus für den Verein. 2009 gründeten ihn Mitglieder der polnischen Minderheit in Lwiw wieder.

Horban sitzt in der Altstadt von Lwiw, in einem Café im Stile eines Wiener Kaffeehauses. Die Kaffeehaustradition, die Lwiw den Beinamen Kaffeehauptstadt der Ukraine eingebracht hat, stammt aus dem 18. Jahrhundert, als Lwiw Lemberg hieß und zu Österreich-Ungarn gehörte. Bis 1939, dem Jahr, als Lemberg infolge des Hitler-Stalin-Paktes der Sowjetunion zugeschlagen wurde, waren 30 Prozent der Bewohner Lembergs mosaischen Glaubens. Etwa die Hälfte der Einwohner waren Polen, 15 Prozent Ukrainer.

Aus dieser Zeit hat sich bis heute die multi-ethnische und multi-religiöse Aura der Stadt erhalten. Sichtbar wird dies in der historischen Altstadt, die seit 1998 zum UNESCO-Weltkulturerbe gehört: Bis heute gibt es eine armenisch-, eine römisch- und eine griechisch-katholische Kirche. Bürgerhäuser aus Renaissance, Barock und der Zeit des Jugendstils reihen sich aneinander, über das Kopfsteinpflaster flanieren vor allem Touristen. Das bauliche Erbe zu erhalten, fällt jedoch schwer: 90 Prozent der Wohnungen sind privat, mehr als zwei Drittel der Häuser unsaniert. Da fehlt es nicht nur an Geld für die Sanierung, es fehlt auch an Gesetzen, um Häuser mit mehreren Besitzern zu renovieren.

Der Bruch der Kultur

"Die Sowjets vertrieben die einheimische Bevölkerung und siedelten Russen und Ukrainer an. Die übernahmen zwar die Möbel ihrer Vorgänger, nicht aber deren Kultur“, erklärt Bürgermeister Andrij Sadowyj, warum auch das ideelle Erbe nicht leichter zu pflegen ist als das bauliche. Die deutsche Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (GIZ) ist neben der Unterstützung der Sanierungsarbeiten auch damit beschäftigt, die öffentliche Aufmerksamkeit für die Historie zu erhöhen. "Es gibt kaum einen öffentlichen Diskurs über das jüdische Erbe“, sagt Iris Gleichmann, Projektleiterin bei der GIZ. An den Schulen werde die jüdische Geschichte der Stadt nicht unterrichtet.

Für Marek Horban sind es gerade die Traditionen des alten Lemberg, die er mit seinem Verein pflegen will. Er schaut auf ein kleines, unscharfes Schwarz-Weiß-Foto aus der Anfangszeit des Vereins. Nur wer es weiß, sieht hinter den Fußballern und hinter den Zuschauerrängen Menschen auf Bäumen sitzen. "Das sind Fans, die sich die Eintrittskarte nicht leisten konnten“, erklärt der Clubchef. "Wir haben Leute aus allen Schichten angezogen.“ Heute versammelt der Verein Profi- und Freizeitsportler, Fußballer, Eishockeyspieler und Radfahrer, Polen und Ukrainer. "Wer unser Trikot trägt“, sagt Horban, "trägt es als Teil unserer Geschichte.“

Anders als Horban interessieren sich die wenigsten Fußballfans für die Geschichte der beiden EM-Länder - obwohl das offizielle Motto der EURO 2012 "Creating History together“ (Gemeinsam Geschichte schreiben) lautet. Zwei Drittel der Ukrainer lässt der Fußball völlig kalt: Für sie ist entscheidender, ob die EM ihr Land voranbringt. So hoffen 42 Prozent der Ukrainer auf eine verbesserte Infrastruktur und neue Arbeitsplätze. Viele wünschen sich, der Europäischen Union ein Stück näher zu kommen.

Das Tor zum Westen

Doch der Assoziierungsvertrag zwischen der Ukraine und der EU liegt seit der Verurteilung von Julia Timoschenko, Ikone der Orangen Revolution von 2004, auf Eis. Da sehen viele Ukrainer ihren Nachbarn Polen, von dem sie seit 2004 durch die EU-Außengrenze getrennt sind, als Tor zum Westen. Der Komponist Ostap Manulyak, Stipendiat des polnischen Förderprogramms "Gaude Polonia“, nutzt Studienaufenthalte in Polen, um die zeitgenössische klassische Musik Westeuropas kennenzulernen. "Wir waren viele Jahre von dieser Entwicklung abgeschnitten“, sagt er.

Deshalb wünschen sich viele Ukrainer, die EURO 2012 werde auch das Image des Landes im Westen verbessern. Die Berichte über die EM-Vorbereitung ist in Westeuropa jedoch von Negativ-Schlagzeilen bestimmt.

Aus Lwiw wurde kürzlich berichtet, dass die Überreste der Synagoge (Bild unten links) einem Fan-Hotel weichen sollen. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich jedoch, dass das Hotel daneben gebaut wird. Der neu entstandenen Arena Lwiw wurde prophezeit, dass sie bis zum Anpfiff im Juni 2012 wohl nicht einsatzbereit sein würde. Kommende Woche wird sie mit dem Spiel Ukraine-Österreich eröffnet - auch wenn noch nicht alle Bereiche fertig gestellt sind.

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