"Kinder wollen Autorität“

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Wie schlimm ist Heidi Klum? Warum sind Lehrer selten Vorbilder? Und wieviel Disziplin darf noch sein? Der Therapeut Günter Funke und der Pädagoge Bernhard Bueb im Gespräch.

Günter Funke ist als Existenzanalytiker ein leidenschaftlicher Verfechter von Lebendigkeit. Bernhard Bueb hingegen, ehemaliger Leiter des deutschen Elite-Internats Schloss Salem, gilt seit seinem "Lob der Disziplin“ aus dem Jahr 2006 als "bad guy“ der Pädagogik. In Salzburg sind sich die beiden erstmals begegnet, um auf Einladung der FURCHE über Vorbilder zu diskutieren. Dabei haben sie gar nicht so wenige Gemeinsamkeiten gefunden.

Die Furche: Herr Funke, Sie sprechen von einer "fragwürdigen“ Sehnsucht nach Vorbildern. Was ist das Fragwürdige daran?

Günter Funke: Dass das Eigene durch Anderes ersetzt wird oder gar nichts Eigenes entwickelt wird. Mein Lehrer Viktor Frankl hat dazu lapidar Folgendes gesagt: Wenn mir der eigene Sinn fehlt, dann tue ich das, was die anderen tun oder was sie wollen, dass ich tue. Dabei besteht die Gefahr des Identitäts-Verlustes. Ein Vorbild sollte nicht zum Nachmachen da sein, sondern zum Sich-Auseinandersetzen, um sich daran profilieren zu können. Wobei Kinder selbst mit sehr viel Eigen-Sinn in die Welt kommen: Eines ihrer ersten Worte ist nicht durch Zufall "selber“.

Bernhard Bueb: Zugleich wissen wir, dass Kinder häufig ihre Eltern, manchmal sogar Gleichaltrige als perfekte Menschen ansehen. Im Laufe des Älterwerdens erfahren sie leidvoll, dass auch die verehrten Vorbilder Fehler haben. Erwachsenwerden heißt also, sich unabhängig von perfekten Vorbildern zu machen. Wer sein ganzes Leben Vorbilder braucht, ist nie erwachsen geworden.

Die Furche: Auch wenn die Eltern für Jugendliche laut Shell-Studie nach wie vor die wichtigsten Vorbilder sind, so richten sich immer mehr an medialen Figuren à la Heidi Klum aus. Ist Kulturpessimismus angesagt?

Bueb: Nein, denn das Vorbild der Eltern wird trotz allem den Charakter prägen. Heidi Klum oder andere Idole anzuhimmeln, wird eine vorübergehende Erscheinung bleiben und Jugendlichen nicht schaden. Gefährdet sind eher Menschen, die keine Eltern hatten, die ihnen durch Fürsorge und Verlässlichkeit Orientierung gegeben haben.

Funke: Ich glaube, Kulturpessimismus ist schon angesagt, aber nicht deshalb, weil Heidi Klum angehimmelt wird: Das sind psychische Ausgleichssysteme, bei denen man sich aus eigenem Mangel heraus mit etwas identifiziert, was man nicht hat. Schlimmer finde ich, dass das ganze Thema des Lebendigen unter dem Diktat und der "Barbarei“ des Messbaren steht, wie Michel Henry sagt (2002 verstorbener französische Philosoph und Begründer der Phänomenologie des Lebens, Anm.). Es wird nicht gefragt, was jemand empfindet, solange man Kennzahlen vorweisen kann. Wenn ich an PISA oder die ganze Bachelor- und Masterstruktur an den Unis denke, dann bin ich wirklich kulturpessimistisch! Das wird weder den Schülern noch der Zukunft gerecht.

Bueb: Absolut richtig, dieses neue Lehrer-Ausbildungssystem ist eine Katastrophe!

Die Furche: Halten Sie es auch für schlimm, dass Lehrer selten von Jugendlichen als Vorbilder genannt werden?

Funke: Nicht schlimm, aber schade: Diese Tendenz kann ich übrigens aus meiner Therapeuten-Praxis bestätigen, wobei ich meine Patienten nicht nach ihren Vorbildern frage, sondern danach, wer sie als Person gesehen und verstanden hat. Das ist nämlich die entscheidende Frage, um jemanden zum Vorbild zu nehmen. Und da schneiden Lehrer, aber auch Eltern nicht so gut ab.

Bueb: Ich habe die Erfahrung gemacht, dass sich viele Pädagogen nicht als Person öffnen, sondern in ihrer Rolle verharren - auch deshalb, weil die Halbtagsschule keine Zeit dafür lässt, dass Lehrer und Schüler sich persönlich kennenlernen können. Allerdings mangelt es auch an starken Persönlichkeiten in diesem Beruf.

Die Furche: Wie war das bei Ihnen, Herr Bueb? Sie sagen heute, dass Sie als Leiter des Elite-Internats Salem zu sehr auf "Vorbild“ gesetzt hätten und zu wenig auf Disziplin. Glauben Sie, dass Sie für viele Ihrer Zöglinge ein Vorbild waren?

Bueb: Vorbild nicht im Sinne einer perfekten Figur. Ich hoffe aber Vorbild in bestimmten Eigenschaften gewesen zu sein, dass ich als verlässlich und ehrlich galt, dass ich kompetent war in meiner Sache, dass ich einfühlsam war, also alle Eigenschaften tatsächlich gelebt habe, die ich für ein gutes menschliches Leben für wichtig halte.

Die Furche: 2006, als Sie Ihre Streitschrift "Lob der Disziplin“ veröffentlich haben, gab es aber nicht nur Zustimmung unter Ihren ehemaligen Schülerinnen und Schülern …

Bueb: Damals war ich nicht mehr Leiter von Salem. Aber es stimmt, dass eine Spaltung durch die Schule ging: Es gab aber auch viele Schüler, die mir zustimmten, wobei mir Zustimmung nicht immer recht war, weil sie oft von der falschen Seite kam - wie auch der Widerspruch. Das hing damit zusammen, dass das Wort "Disziplin“ sofort Emotionen weckt und den Verstand ausschaltet.

Die Furche: Was löst dieses Wort bei Ihnen aus, Herr Funke?

Funke: Ich würde so sagen: Können kann ich nur über Disziplin erreichen. Aber die Voraussetzung ist, dass mich zuvor ein Wert berührt, denn dann entsteht der Wille, sich diesem Wert unterzuordnen und sich auf ihn hin zu disziplinieren. Dieser Wert kann auch ein Basketball sein, der es von einem verlangt, dass man fünf Mal pro Woche trainieren geht. Deshalb lautet ja unsere langjährige Forderung: Wir dürfen den Kindern die Mühe nicht abnehmen! Ich bin immer wieder erstaunt, wie selbstdiszipliniert Kinder im Wertbezug sind. Aber diese mangelnde Wertberührung darf ich nie durch Außendisziplinierung, also Zwang, ersetzen.

Bueb: Da bin ich anderer Meinung: Solange das staatliche Schulmodell so funktioniert, dass nur derjenige, der den akademischen Anforderungen gewachsen ist, Erfolg hat, muss man manchmal sagen: Da musst du durch, auch wenn du keine Lust hast! Eltern, deren Kinder in dieser Hinsicht nicht so begabt sind, stehen täglich vor der Frage: Zwinge ich sie oder ihn nun gegen ihren Willen? Das Kind auf eine nahe Montessori-Schule zu schicken, ist ja oft nicht möglich.

Die Furche: Das klingt, als ob Sie alternativpädagogische Schulen für die Schulen der Zukunft halten würden …

Bueb: So ist es, doch zugleich muss ich Zweifel anmelden, weil sie durch das hohe Maß an Eingehen auf das einzelne Kind Personen erfordern, die der liebe Gott in solcher Vielzahl nicht geschaffen hat. Nur 20 bis 30 Prozent der Menschen lieben ja von Haus aus den Nächsten, sind einfühlsam und haben auch alle möglichen anderen, guten Eigenschaften. Das gilt natürlich auch für Lehrerinnen und Lehrer.

Die Furche: Und für Eltern. Davon abgesehen stellt sich mir die Frage, ob man zu Lehrern sagen kann "Sei Vorbild!“, wie Sie das in Ihrem Buch "Von der Pflicht zu führen“ von 2008 tun. Frankl hat demgegenüber gesagt: "Man kann nicht Vorbild sein wollen!“

Funke: Es geht ihm auch hier um die Wertberührung. Wenn ich als Erwachsener wertorientiert lebe, dann bin ich im Geschehen drin, dann muss ich nicht noch reflektieren: "Bin ich Vorbild oder nicht?“ Man darf das Vorbildsein also nicht provozieren - geschweige denn damit hausieren gehen.

Bueb: Es stimmt natürlich: Wenn man Vorbild sein will, ist man es schon nicht mehr. Allerdings behaupte ich, dass zu wenige Lehrer bereit sind, sich als Person den Schülern überhaupt zu stellen.

Funke: Das ist aber wichtig! Deshalb sprechen wir auch von personaler Pädagogik: Ich muss, um in eine Begegnung hineinzukommen, auch Gegner sein können - kein Feind, wohlgemerkt, aber notfalls Gegner!

Bueb: Viele Lehrer verstecken sich aber häufig hinter ihrem Fach, und das ist für Schüler langweilig. Kinder und Jugendliche sind ja keine sachorientierten Wesen, die wollen sich an Personen reiben. Und sie wollen auch Autorität.

Die Furche: Die Frage ist, worauf diese Autorität gründet: Sie gehen so weit, wieder mehr "Amtsautorität“ für Lehrer zu fordern. Glauben Sie wirklich, dass das bei mündigen, jungen Menschen, die wir uns ja wünschen, heute noch funktioniert?

Bueb: Es kann nicht anders funktionieren, denn der Schüler hat bestimmte Ansprüche an das Amt des Lehrers, die dieser erfüllen muss: etwa den Schüler zu schützen oder gerecht zu sein. Und der Lehrer hat seinerseits ein Recht, respektiert zu werden durch sein Amt. Es gibt Lehrer, die sind ihrem Amt nicht gewachsen, aber die dürfen nicht einfach zu Mobbing-Opfern werden. Dann muss man sagen: Er hat dieses Amt, und ihr müsst ihn respektieren, so schwer es euch fällt.

Funke: Da fällt mir aus meiner Zeit als Seelsorger der Fall eines Mannes ein, der von einer Überich-Struktur gequält wurde und jeden Sonntag in die Kirche gehen musste. Ich wusste, dass das in dieser Form nicht gut für ihn ist, doch das konnte ich ihm nur qua Amt sagen. Insofern verstehe ich, dass es das auch im Schulbereich geben muss.

Die Furche: Das überrascht mich …

Funke: (lacht) Nun ja, auf der anderen Seite sage ich auch, dass mangelnde Persönlichkeit niemals durch Amtsgehabe oder pure Didaktik kompensiert werden darf und kann. Das ist und bleibt ein Dilemma.

Bueb: Die heftigen Reaktionen auf meine Aussage zur "Amtsautorität“ stammen natürlich aus unserer geschichtlichen Erfahrung, weil damals das Amt die Person ersetzt hat. Und das darf natürlich nicht sein.

Die Furche: Kommen wir zu den Eltern, deren "Amtsautorität“ ebenfalls schwindet - und denen zunehmend Vorbilder für zeitgemäßes Erziehen fehlen. Haben Sie Ideen, wie man sie unterstützen könnte?

Bueb: Jedenfalls nicht durch Belehrung oder gar Elternschulen, sondern indem man Gemeinschaften schafft, in denen Eltern sich aufgehoben fühlen und austauschen können - auch über Erziehung. Die Schulen könnten solche Begegnungs-Zentren werden.

Funke: Ich glaube, wir sollten mit Eltern darüber im Gespräch sein, was Menschsein wesentlich ausmacht. Wenn man sich daran orientiert oder an die innere Stimme halten könnte - und damit meine ich keine Überich-Struktur -, dann hat man die Basis dafür, um kreativ auf Herausforderungen durch die Kinder einzugehen und nicht nach Rezept erziehen zu müssen. Aber da ist natürlich viel Arbeit zu leisten.

Die Furche: Letzte Frage, andersrum gedacht: Inwiefern sollen wir Erwachsenen uns Kinder zum Vorbild nehmen?

Bueb: Ich würde sagen, wie Kinder mit der Digitalisierung und Schnelligkeit der Welt umgehen, davon können wir viel lernen.

Funke: Ich kann den Level, den meine jüngste Tochter im Umgang mit Medien hat, nie mehr lernen. Was ich aber lernen konnte, als ich sie so angeschaut habe, war Folgendes: Ich muss keine Angst haben! Die schaffen das schon! Wenn dieses Vertrauen da ist, wären viele Eltern entkrampfter. Was wir außerdem noch von Kindern lernen könnten, ist ihre ungebremste Lebendigkeit und Begeisterung. Wir Erwachsenen machen immer viel zu viele Kompromisse im Sinne von Funktionalität und Materialität. Ein Kind kann sich hingeben und verlieren an eine gute Sache. In dieser Lebensintensität sollten wir sie uns zum Vorbild nehmen - und den jesuanischen Satz "Wenn ihr nicht werdet, wie die Kinder“ endlich einlösen.

Günter Funke

Frankl-Schüler

1948 geboren, studierte Günter Funke in Hamburg evangelische Theologie und war zwölf Jahre lang als Seelsorger tätig. 1972 traf er Viktor Frankl, 1992 gründete der fünffache Vater das Institut für Logotherapie und Existenzanalyse in Berlin.

Wo sind die Schatten?

Bei der Pädagogischen Werktagung Salzburg, in deren wissenschaftlichem Beirat er vertreten ist, hat Funke einen Arbeitskreis über das "Wesen des Vorbildes“ geleitet und den Blick auf die Schattenseiten gelenkt: "Am Fuß des Leuchtturms ist es dunkel.“

Bernhard Bueb

Streitbarer Erzieher

1938 in Tansania geboren, hat Bueb Philosophie und kath. Theologie studiert und über Nietzsche promoviert. Von 1974 bis 2005 leitete er die Internatsschule Schloss Salem am Bodensee. 2006 sorgte er mit der Streitschrift "Lob der Disziplin“ für Aufregung.

Nicht nur Reibebaum

Auch mit seinem Buch "Von der Pflicht zu führen“ (2008) provozierte Bueb Debatten. In Salzburg, wo er mit dem Jenaer Pädagogen Michael Winkler streiten sollte, gab er sich indes versöhnlich: "Heute würde ich manches nicht mehr so formulieren.“

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