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Die Kirche muss die Menschen zusammenhalten; sonst gibt es hier niemanden, der das tut: Derartiger (Selbst-)Einschätzung begegnet man in Kretas Orthodoxie auf Schritt und Tritt.

Nein, so schrecklich sind die gegenwärtigen Verhältnisse nicht, wie sie in Nikos Kazantzakis’ Roman "Griechische Passion“ beschrieben werden. Dort gerät zu Ende der osmanischen Zeit ein griechisches Dorf außer Rand und Band und kreuzigt in der Ermordung des guten Protagonisten quasi Christus zum zweiten Mal. Der Roman aus 1948 und dann, noch mehr, Kazantzakis’ "Letzte Versuchung Christi“ (1951) führten zur Exkommunikation des großen Sohnes Kretas, der heute längst rehabilitiert scheint und in der Hauptstadt Iraklío seine letzte Ruhestätte gefunden hat.

Kazantzakis war kein Atheist, man müsse ihn eigentlich als großen Theologen sehen, meint auch Arsenios Kardamakis, der griechisch-orthodoxe Metropolit von Austria, der mit österreichischen Journalisten durch seine kretische Heimat unterwegs ist. Eine Reise der Gegensätze, die mitunter sehr versteckt wahrzunehmen sind, und in der die Kirche bzw. deren Vertreter eine markante Rolle spielen.

Das ersehnte Mitleiden der Kirche

Die "Griechische Passion“ erzählt von Mord und Totschlag, den eine bigotte Dorfgesellschaft im Verein mit dem örtlichen Klerus begeht; sie hat mit einer "kretischen“ Passion anno 2013 auf den ersten Blick wenig zu tun. Gott sei Dank. Aber das, was den Besuchern entgegentritt, zeigt doch das verhaltene, oft verdeckte Leiden einer Gesellschaft, die bei aller landschaftlichen Schönheit, dem traumhaften Meer und den Highlights des Tourismus, der Gastfreundschaft der Menschen sowie aller Hoffnung trotzdem unter Räder zu kommen droht. Eine alltägliche Passion, die die Kirche vor neue Herausforderungen stellt und sie eine geachtete Institution sein lässt, deren Hilfe - und vor allem: Mitleiden - ersehnt wird.

Krise ist. Und sie ist überall. Kirche in der Krise meint hier eine Zuschreibung, die sich nicht auf eine binneninstitutionelle Auseinandersetzung bezieht, sondern die eine aktuelle Lebensaufgabe der altehrwürdigen Orthodoxie, deren Hauch die Insel nach wie vor durchzieht, darstellt.

Auch ein Besuch bei Erzbischof Irenaios (Athanasiadis), dem Oberhaupt der halbautonomen orthodoxen Kirche von Kreta, macht dies den Reisenden klar. Der 80-jährige Hierarch hat als junger Mann schwierige Verhältnisse erlebt, die jenen gleichen, wie sie Kazantzakis in der "Griechischen Passion“ vor Augen hatte: Die Jahre des Zweiten Weltkriegs und danach waren schlimm, erzählt der Erzbischof. Doch es gab einen Unterschied zur heutigen Krise: "Es war schwierig. Aber die Menschen hatten Hoffnung. Und sie bereiteten sich auf bessere Zeiten vor“, so Irenaios. Vor allem hätten die Leute gewusst, "wer auf der anderen Seite stand“.

Und das war anders als zurzeit: Wahrscheinlich sind die materiellen Nöte von heute immer noch "besser“ als die bittere Armut der Nachkriegszeit. Aber die Leute wüssten nicht, wer auf der anderen Seite stehe. Der Erzbischof weist auf die vielen Selbstmorde hin, das bereitet ihm große Sorgen. Er deutet sie als Zeichen dafür, wie es den Menschen wirklich geht, dass sie oft die Hoffnung fahren lassen. Kirche in der Krise, das bestätigt Irenaios wie jeder andere der zahlreichen Würdenträger, denen die österreichische Gruppe begegnet, heißt, die Menschen zusammenzuhalten: "Die Kirche muss diese Rolle spielen, es gibt niemanden, der es sonst kann“, sagt Irenaios.

Diese Einschätzung führen die Kirchenleute landauf landab im Mund. Zugleich sucht auch die orthodoxe Kirche, materiell zu helfen. Das erzählt die Äbtissin im aus dem 9. Jahrhundert stammenden Kloster Keras ebenso wie die Metropoliten, die eine der orthodoxen Diözesen auf der Insel leiten.

Dabei ist die Kirche selbst materiell bedroht - auch das eine Folge der Verhältnisse: Bis zum Ausbruch der Krise wurden die orthodoxen Priester vom Staat bezahlt - nicht fürstlich, aber immerhin. Das ist nun vorbei: Wenn Priester ausscheiden, wird pro Metropolie nur mehr ein Nachfolger finanziert. Praktisch bedeutet das beispielsweise, dass im letzten Jahr in Iraklío der Staat den Abgang von zehn Priestern nur für einen Neuzugang finanziell kompensierte. Mit einem Schlag steht auch die Institution Kirche so vor einer kaum zu stemmenden Herausforderung. Künftig wird ein Priester von seiner Berufung nicht mehr leben können, erzählen die Hierarchen. Es ist damit zu rechnen, dass Priester ein Ehrenamt wird - eine Berufung neben dem bürgerlichen Beruf, der angesichts von Arbeitslosenraten von 28 Prozent und mehr auch nicht sicher ist.

Erzbischof Irenaios ortet in dieser Unbill eine unverzichtbare Aufgabe der Kirche. Sie habe eine andere Rolle als die Politik: "Die Kirche muss die Rolle der Mutter spielen.“

Mutterrolle in einer Zeit der Reinigung

Das, was die orthodoxe Kirche ebenfalls ausmacht, ist der Versuch, die gegenwärtige Lage Griechenlands und seiner Menschen zu deuten. Wohin die österreichische Gruppe auch kommt, erfährt sie gleichlautende Analysen. Archimandrit Makarios Griniezakis, Priestermönch im Bergkloster Agios Georgios Epanosifi, dem auch der Wiener Metropolit Arsenios angehört, spricht von einer spirituellen Krise der Gesellschaft: Nicht die finanzielle Krise sei das Problem. Es gehe um etwas anderes als ums Geld, so der Archimandrit: "Hinter dem Geld verbergen sich weder Freude noch Glück.“ Das hätten viele vergessen. Daher bezeichnet der Mönch die Gegenwart als "Zeit der Reinigung“. Makarios ist ein gelehrter und weitgereister Mann - er hat Theologie und in den USA Medizin studiert. Und er unterrichtet Bioethik an staatlichen und kirchlichen Hochschulen in Kreta wie auf dem Festland und Theologie in Estland.

"Vor drei Jahren haben wir ein, Plastikleben‘ gelebt“, sagt Makarios: "Wir haben Kredite aufgenommen, um auf Urlaub fahren zu können - das war falsch!“ Auch derartige selbstkritische Sicht ist beinahe allen der zahlreichen Begegnungen mit Kirchenmännern gemeinsam. Was die Kirche dem entgegen anbieten möchte, ist nach den Worten von Priestermönch Makarios eine Rückbesinnung auf Jesus Christus.

Ebenso unisono wie die Selbsterkenntnis fällt die kirchliche Kritik am Verhalten Europas gegenüber Griechenland aus: "Wir befinden uns in einem Wirtschaftskrieg“, meint etwa Nektarios (Papadákis), Metropolit von Petras und Cherronisos im östlichen Kreta. Griechenland liege an der Schnittstelle von Europa, Afrika und Asien. Es sei kein Zufall dass der Gegensatz zwischen Norden und Süden gerade hier aufbreche.

Trotz der materiellen Nöte, denen die Kirche selber ausgesetzt ist, die sie aber für die Menschen zu lindern sucht, ist es eine geistige Perspektive, die von beinahe allen Gesprächspartnern entwickelt und beschworen wird: "Wir fürchten die Krise nicht“, sagt Metropolit Nektarios. Die Krise sei auch "ein Segen“, weil sie helfe, sich wieder Gott zuzuwenden. Solche Argumentation kann wohl ambivalent aufgefasst werden, aber Nektarios bleibt klar: "Wir haben die Wirtschaft zum Altar gemacht, worauf wir unsere Götter gestellt haben.“ Der Metropolit ist überzeugt, dass die Krise helfen wird, diese Fehler künftig zu vermeiden. Und er zitiert sinngemäß Nikos Kazantzakis: Das allzu leichte Leben sei eine Sünde. Nektarios setzt hinzu: "Warum? Weil wir unsere Tradition verlieren. Und unsere Werte.“

En passant begegnen die Österreicher dem Schriftsteller Kazantzakis auch im kleinen Kulturzentrum des Bergdorfes Kritsas, wo den Besuchern örtliche Mehlspeisen und das unvermeidliche Stamperl Raki aufgewartet werden. An der Wand hängen Schwarzweißfotos des Films "Der Mann, der sterben muss“, Jules Dassins epochaler Verfilmung der "Griechischen Passion“ aus dem Jahr 1957 mit Melina Mercouri und anderen Stars jener Zeit. Anderswo sieht man immer wieder T-Shirt-Träger mit den Worten des Epitaphs von Kazantzakis: "Ich hoffe nichts. Ich fürchte nichts. Ich bin frei“, lautet der Spruch auf dem Grab des größten Kreters des 20. Jahrhunderts. Galgenhumor als Einstellung in Krisenzeit? Mag sein. Oder ein Motto fürs Lebensgefühl dieser Tage - vielleicht sogar mit dem spirituellen Hintergrund eines Gottsuchers wie Nikos Kazantzakis? Wer weiß.

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