Kitsch? Ein Reisebericht

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In Kalabrien, am südlichen Ende Europas, hat sich die Geschichte fast ein Jahrtausend nicht blicken lassen. Was davor geschaffen wurde, ist von seltsamer, archaischer Schönheit: Burgen, Paläste, Kirchen, verlassene Abteien. Betritt man sie heute, so sind ihre alten Mauern von einer anderen Sorte "Kunst" durchwuchert und überpflastert, zu der dem Zugereisten aus dem Norden das Wort Kitsch schnell über die Lippen kommt.

Das hat schon früh begonnen. In Rossano wird das Bild der Maria Achiropita - das nicht von Menschenhand geschaffene - verehrt, als ein unwiderlegbares Argument gegen die Bilderstürmer. Das Felsenkloster Santa Maria dell'Armi verdankt sich einem Marienbild, das von selbst auf einem Stein erschien, den zwei Bauern zerschlugen. In Madonna del Pollini erschien die Gottesmutter einem Hirtenmädchen und verlangte den Bau einer Kapelle. Aber erst vor wenigen Jahren weinte in Crosia eine Madonna und machte den Ort zum Ziel einer monatlichen Wallfahrt - wie überhaupt Maria hier wie eine vierte göttliche Person präsent ist. In ihrer Gegenwart wird geheiratet, rund um sie sammeln sich sentimentale Bilder und Votivgaben, an ihrer Seite sind Pater Pio und Mutter Theresa allgegenwärtig. Blumen, vornehmlich unverwelkliche aus Plastik, schmücken nicht nur Altäre, sondern Kapellen, Nischen und Höhlen landauf, landab.

Der Reisende, zuerst abgestoßen, dann verwundert, beginnt, sein Kunstverständnis in Frage zu stellen. Könnte es sein, dass hier nicht das Verachtenswerte blüht, sondern die Verächtlichkeit importiert wird? Könnte es sein, dass in einem Land, das nach dem großen Friedrich ii. nur noch wie eine Kolonie ausgebeutet wurde, andere Maßstäbe des Überlebens gelten? Könnte es sein, dass die Allgegenwart des Heiligen erst unter dem skeptischen Blick des Zugereisten zum Kitsch wird?

Der Autor ist freier Journalist.

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