"Klanglich Liebe machen"

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Warum geht uns Musik so nahe? Richard Parncutt, Professor für Musikpsychologie an der Universität Graz und gebürtiger Australier, über die rätselhafte, emotionale Kraft von Rhythmen und Melodien.

Die Furche: Herr Professor Parncutt, wozu braucht der Mensch eigentlich Musik?

Richard Parncutt: Das ist eine große Frage - zu der es verschiedene Theorien gibt: Eine evolutionsgeschichtliche besagt, dass die Menschen Musik brauchen, weil sie den sozialen Zusammenhalt und das Zugehörigkeitsgefühl zu einer Gruppe stärkt, wodurch diese Gruppe anderen Gruppen überlegen ist. Offen ist aber, ob Musik tatsächlich zum Überleben im evolutionären Sinn beitragen kann. Ich tendiere dazu, diese Frage mit Nein zu beantworten.

Die Furche: Musik ist also - evolutionsgeschichtlich gesehen - Luxus?

Parncutt: Das Wort Luxus ist sicher übertrieben. Sagen wir es so: Menschen investieren viel Zeit und Mühe in Musik. Musik ist also "kostenintensiv", und diese Kosten müssen mit Vorteilen aufgewogen werden. Es ist aber unklar, worin diese Vorteile bestehen. Ich selbst glaube jedenfalls, dass Musik nicht nur eine evolutionäre Anpassung ist, wie etwa das Verhalten beim Flirten, das ja schlussendlich zur Reproduktion führen soll.

Die Furche: Tatsache ist, dass Musik den Menschen besonders intensiv berührt…

Parncutt: Ja, und zwar mehr als Sprache. Musik ist der Sprache in vielen Dingen ähnlich - und doch gibt es einen gravierenden Unterschied: Sprache hat einen lexikalischen Teil - also all das, was man im Wörterbuch nachschlagen kann -, und einen emotionalen Teil. Musik hingegen hat nur diesen emotionalen Aspekt. Es gibt in der Psychologie auch viele Untersuchungen darüber, welch starke Emotionen durch Musik ausgelöst werden können. Menschen weinen oder schreien bei bestimmter Musik, sie ändern ihr gesamtes Leben oder haben ein Schlüsselerlebnis. Das Rätselhafte daran ist, dass starke Emotionen im Sinn der evolutionären Psychologie immer dann auftreten, wenn es um das Überleben geht: Die Eltern-Kind-Beziehung, Sex oder auch Hunger lösen große Emotionen aus. Musik hat aber keine solche überlebenswichtige Funktion. Deswegen ist sie so ein Rätsel.

Die Furche: Gibt es so etwas wie ein "Musik-Zentrum" im Gehirn?

Parncutt: Es gibt Areale in den Temporallappen, die nach Meinung einiger Forscher hauptsächlich Sprache bearbeiten, und andere Areale, die besonders für Musik zuständig sind. Manche behaupten auch, dass Musik gleichsam schon biologisch im Gehirn festgelegt ist. Ich bin aber skeptisch: Schließlich wissen wir, dass das Gehirn plastisch ist und sich im Lauf des Lebens sehr stark verändert. Man muss auch betonen, dass Musik mehr ist als bloß Hören. Die emotionalen und motorischen Aspekte der Musik sind alle in unterschiedlichen Teilen des Gehirns angesiedelt und werden vernetzt. Es ist also ziemlich kompliziert!

Die Furche: Weiß man, was die Musikwahrnehmung eines Menschen besonders prägt?

Parncutt: Überraschend prägend ist die Eltern-Kind-Beziehung. Es ist ganz normal, dass eine Mutter sehr melodisch mit ihrem Baby spricht. Das Kind hat das gern und versteht auch besser, was gemeint ist. Diese Art Ritual zwischen Mutter und Kind beeinflusst auch, wie Kinder später miteinander spielen. Aus dem Spiel entstehen schließlich die Rituale selbst, die in allen Kulturen vorhanden sind. Und aus diesen Ritualen entstehen wiederum sowohl die Musik als auch die Religion, die ja auch mit starken Emotionen verbunden ist.

Die Furche: Heißt das, dass man Musik aus anderen Kulturen im Grunde nie wirklich erfassen kann?

Parncutt: Zu dieser Frage gibt es eine große Uneinigkeit: Die Musikethnologinnen und -ethnologen sind seit Jahrzehnten der Meinung, dass man fremde Musik nicht wirklich versteht. Um sie einigermaßen zu verstehen, müsste man jahrelang in der anderen Kultur leben. Andererseits gibt es musikpsychologische Untersuchungen, bei denen man europäischen Hörerinnen und Hörern indische oder chinesische Musik vorgespielt hat. Das Ergebnis war, dass sie die gemeinten Emotionen genauso gut erkennen konnten wie Personen aus der anderen Kultur.

Die Furche: Nicht nur indische oder chinesische Musik, auch atonale "Neue Musik" kommt vielen Zuhörern spanisch vor…

Parncutt: Das hat ebenfalls mit frühkindlichen Prägungen zu tun: Wir lernen die Harmonien, wir lernen Dur und Moll von Kindheit an. Das wird im Gehirn festgelegt und ist kaum zu ändern. Wobei zwar oft behauptet wird, dass die Leute keine atonale Musik mögen, aber diese Musik etwa im Kino die ganze Zeit auftaucht.

Die Furche: Wie stark ist insgesamt der Effekt von Filmmusik?

Parncutt: Die Psychologen nehmen gern ein Video und lassen es eine Versuchsgruppe mit Musik, ohne Musik und mit einem anderen Klang ansehen. Anschließend überprüft man, wie sehr die Interpretationen abweichen. Eine neutrale Bildfolge kann neutral wahrgenommen werden oder - mit einer bestimmten Musik unterlegt - als sich anbahnende Katastrophe. Der Effekt ist also extrem.

Die Furche: Und wie lässt sich der "Gänsehaut-Effekt" bei bestimmten Musikstücken erklären?

Parncutt: Grundsätzlich weiß man: Wenn man bestimmte Musik hört, dann erinnert man sich an eine bestimmte Situation - und wenn diese Situation für mich wichtig war, ist es auch die Musik. Aber man weiß damit noch immer nicht, warum die Musik an sich ursprünglich emotional war. Auch bei Konzerten, wo sich Menschenmassen begeistern, weiß man nicht, wo diese emotionale Kraft herkommt. Sie scheint von der Person auf der Bühne herzukommen, aber diese Person, die musiziert, weiß es ebenso wenig.

Die Furche: Weiß man, warum ein Lied zum Lieblingslied mutiert?

Parncutt: Wenn man immer wieder die gleiche Struktur hört, dann wird sie vertrauter - und üblicherweise wird sie dann auch präferiert. Die Präferenz steigt, wenn die Vertrautheit steigt. Das ist nicht nur bei komplexer, sondern auch bei einfacher Musik so. Ich habe etwa kleine Kinder und muss immer wieder CDs mit Kinderliedern anhören. Anfangs habe ich gedacht: Oje, ist das fad. Aber mittlerweile fange ich an, sie zu mögen.

Die Furche: Apropos Kinder: Es gibt Leute, die Schwangeren empfehlen, ihren Bauch mit Mozart zu beschallen…

Parncutt: Ich glaube eher, dass das für das Kind gefährlich sein könnte. Ein Fötus kann ja schon hören und fängt bereits im Mutterleib an, eine Beziehung zur Mutter aufzubauen, weil diese Beziehung nach der Geburt überlebenswichtig ist. Das Baby muss deshalb auch die internen Geräusche des Körpers der Mutter hören können, weil diese sehr viel Information über den Zustand der Mutter beinhalten: wie die Stimme klingt, wie das Herz klingt. Mozart hingegen ist für einen Fötus völlig bedeutungslos. Es kann eher verwirrend sein, wenn aus einer anderen Richtung plötzlich Schall kommt. Deshalb bin ich gegen eine solche Beschallung. Außerdem schlafen Föten ja die überwiegende Zeit. Und wer würde einen Lautsprecher vor ein schlafendes Kind stellen?

Die Furche: Zumindest bei geborenen Kindern soll Musik förderlich sein: Es gibt Studien, wonach Kinder, die selbst musizieren, besonders sozial und intelligent sein sollen …

Parncutt: Auch ich glaube, dass frühes Musizieren gut für die allgemeine Entwicklung des Kindes ist - aber das hat nichts mit einem vermeintlich magischen Wert der Musik zu tun. Ausschlaggebend ist eher, dass die Kinder beim Üben kognitive Leistungen vollbringen, dass sie Spaß dabei haben und dass sie beim Musizieren etwas gemeinsam mit anderen Kindern tun. Der Vorteil beim Musizieren ist auch, dass die Kinder eine Art emotionale Belohnung für ihre Aktivität bekommen. Deshalb ist Musik gut. Es gab auch eine Untersuchung, wonach sich das räumliche Vorstellungsvermögen verbessert, wenn man ein Stück von Mozart hört - woraufhin man vom "Mozart-Effekt" gesprochen hat und den Kindern in der Schule Mozart vorspielen wollte. Doch das war völlig übertrieben. Schließlich hat dieser Effekt bei dieser Studie nur ein paar Minuten angedauert - und hatte vielleicht eher damit zu tun, dass die untersuchten Personen einfach glücklich und aufgeregt waren.

Die Furche: Musik wird nicht zuletzt als Therapie eingesetzt. Was kann Musik im Körper bewirken?

Parncutt: Die Musiktherapie vermag viele Dinge - etwa bei traumatisierten Personen oder bei lerngestörten Kindern. Ich als Musikpsychologe glaube, dass in all diesen Situationen die Person einfach Nähe und Intimität braucht. Wenn das nicht anders befriedigt werden kann, ist Musik ein Ersatz für diese Intimität. Sie löst in der Person das Gefühl aus, nicht allein zu sein. Das ist wie Liebe: Hier wird gleichsam klanglich Liebe gemacht.

Das Gespräch führte Doris Helmberger.

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