Kleine Leben werden zu einem ganz großen Film

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Langzeitdokumentarfilm "Über die Jahre": Nikolaus Geyrhalter filmte im Waldviertel zehn Jahre lang.

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Langzeitdokumentarfilm "Über die Jahre": Nikolaus Geyrhalter filmte im Waldviertel zehn Jahre lang.

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Er zählt zu den Großen unter Österreichs Dokumentarfilmern. Mit Filmen wie "Pripyat" (1999) über eine nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl verlassene Stadt reüssierte Nikolaus Geyrhalter ebenso wie mit "Unser täglich Brot"(2005), wo er den -globalen -Wahnsinn der Nahrungsmittelproduktion geißelte. Sein episodisch angelegter Filmessay "Abendland" über die Ränder Europas aus dem Jahr 2011 taugte auch schon zum Eröffnungsfilm der Diagonale. Heuer ist Geyrhalter beim heimischen Filmfestival die Personale gewidmet -alle seine Filme sind zu sehen. Eine richtige Auszeichnung für den 43-jährigen Filmemacher.

Das neue Opus magnum

Doch nicht nur retrospektiv präsentiert sich Geyrhalter in Graz: Bei der Diagonale hat auch sein neues Opus magnum "Über die Jahre" Österreich-Premiere, mit der er schon bei der Berlinale großes Kritikerlob einheimste.

Dass Geyrhalter einen langen Atem hat, ist nichts Neues. Aber dass er für "Über die Jahre" gleich zehn Jahre Dreharbeiten veranschlagen würde müssen, war ihm zu Beginn nicht bewusst. Denn da ging es zunächst um eine "schrullige" Textilfabrik in Schrems.

"2003 erzählte man uns von einer Textilfabrik im Waldviertel", berichtet Geyrhalter heute, "in der angeblich die Zeit stehengeblieben ist. Der Besitzer soll hier mit musealen Maschinen und den letzten der ehemals 300 Mitarbeiter traditionelle Stoffsorten produzieren, die der Markt immer weniger abnimmt."

Doch aus dem Dokument über eine vergangene Zeit, als noch Stoffwindeln in Cellophan gepackt und dann verschickt wurden, ist eine Chronik von Menschen in einer sterbenden Region -strukturschwach nennt man das bekanntlich heute -geworden. Denn während der Dreharbeiten ging die Firma in Konkurs, die Fabrik musst schließen.

"Über die Jahre" begleitet nun die arbeitslos gewordenen Fabriksarbeiter in ihr weiteres Leben und auch den alten Unternehmer, der schließlich einem Schlaganfall erliegt. Gut zehn Jahre voll schwindender und keimender Hoffnungen, ums Einrichten in der Langzeitarbeitslosigkeit und von doch noch Aussichten auf einen neuen Job. Unterschiedliche Lebenswege, erzählt von den Betroffenen selber, berührend und mitnehmend -und am Ende doch nicht hoffnungslos. 188 Minuten lang fasst "Über die Jahre" diese Leben zusammen -im Reden und im Schweigen der Betroffenen in die Kamera Geyrhalters.

Panorama an Geschichten

Da ist die Frau aus dem Büro, die anderswo Arbeit gefunden hat, die aber den Unfalltod ihres 20-jährigen Sohnes verkraften muss. Ein anderer kriegt hingegen keine Job mehr, schleppt sich durch Schulung um Schulung -und freut sich, dass er nach den vielen Jahren heute in der Pension ist. Wieder ein anderer hält sich mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser, aber das unbezahlte Ausgraben von Baumwurzelen aim Wald oder das bezahlte Schwammerlsuchen gibt Lebenssinn und -kraft.

Eine weitere Ex-Arbeiterin muss in prekärern Verhältnissen überleben und dabei noch ihre Enkel aufziehen: Das Waldviertel bietet ein Panorama an Lebensgeschichten, die schwer scheinen -aber durch die Menschen, die davon erzähen eine menschliche, anrührende Dimension erhalten. Kleine Leben werden durch die Kamerabrille von Nikolaus Geyrhalter zu einem ganz großen Film.

Über die Jahre A 2015. Regie: Nikolaus Geyrhalter. Stadtkino. 188 Min. Ab 20.3. im Kino.

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