KLETTERMAX und Zappelphilipp

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Im Hof der Volksschule Luftenberg im oberösterreichischen Mühlviertel steht eine Eiche. Es ist kein besonders prächtiger Baum, und doch unterschiedet er sich von den allermeisten anderen Bäumen in den Schulhöfen dieses Landes: Schließlich kann man ihn nicht nur bewundern oder Herzen in seine Rinde ritzen. Nein, man kann ihn auch beklettern.

Acht Jahre ist es her, dass Direktorin Maria Haunschmied-Hager die Begrenzung um den Baum wegreißen und am Boden eine dicke Schicht aus Holzspänen verteilen ließ. Höchstens drei Kinder dürfen sich in der "bewegten Pause" gleichzeitig in die Äste schwingen, auch eine Aufsicht ist dabei. Trotzdem war anfangs die Angst der Eltern groß: Was, wenn ein Kind herunterfallen könnte? "Aber bis heute hat sich niemand weh getan", erzählt die langjährige Montessori-und Sonderpädagogin.

"Pedibus statt Omnibus"

Es ist nicht die einzige bewegungsfördernde Maßnahme, die Haunschmied-Hager ergriffen hat. Das Projekt "Pedibus statt Omnibus" soll ihre 150 Schülerinnen und Schüler dazu motivieren, den Schulweg wieder öfter zu Fuß zu beschreiten. Zudem nimmt die Schule auch an jenem neuromotorischen Förderprogramm teil, das am Institut für Neuro-Physiologische Psychologie (INPP) im englischen Chester entwickelt worden ist. Schon bei der Schuleinschreibung werden Kinder dabei punkto Gleichgewicht, Koordination und frühkindlicher Restreflexe getestet. Haben sich diese Reflexe nicht zurückgebildet bzw. wurden sie nicht durch Bewegung kompensiert, kann es zu Lernbarrieren oder Verhaltensauffälligkeiten führen (vgl. www.inpp.info). Fünf der 30 Kinder, die im Vorjahr in Luftenberg von einem ausgebildeten Lehrerteam gescreent wurden, hatten so deutliche motorische Unreifezeichen, dass sie nun im Rahmen einer Vorschulklasse an einer benachbarten Schule mit speziellen Bewegungsübungen gefördert werden. "Das soll aber ganz entspannt sein", sagt Haunschmied-Hager, "ohne Stress und Leistungsdruck."

Dass genau dieser Druck in der Lebenswelt der meisten Kinder kontinuierlich wächst und -zusammen mit den schwindenden Bewegungsräumen -dramatische Folgen hat, ist für Haunschmied-Hager unbestritten. Wie die meisten anderen Pädagoginnen und Experten berichtet auch sie von immer mehr unruhigen, konzentrationsschwachen oder auch respektlosen Kids.

Doch ist es tatsächlich so, dass die Zahl der "gestörten" Kinder steigt? Martin Spiewak hat diese These in der vorwöchigen Ausgabe der deutschen Wochenzeitung Die Zeit heftig angezweifelt -und sich dabei u.a. auf den Frankfurter Psychologen und Soziologen Martin Dornes berufen, dessen entwarnendes Buch "Die Modernisierung der Seele" ein Ladenhüter war. "Generation ADHS" oder "Generation Stress" seien demnach "Schlagwörter fern der Realität" und "mediale Artefakte". Als Beleg dafür zitierte Spiewak auch die jüngste Studie des deutschen Robert Koch-Instituts, wonach 94 Prozent der Eltern die körperliche und seelische Verfassung ihrer Kinder als gut oder sehr gut einschätzen. Auch 88 Prozent der Kinder sehen das so. Spiewaks Conclusio: Die Rede vom "gestörten Kind" sei eine Lüge - zumindest was Deutschland betrifft.

Und Österreich?"Es gibt bei uns leider so gut wie keine systematischen Studien", beklagt Klaus Vavrik, Präsident der Österreichischen Liga für Kinder- und Jugendgesundheit. "Es gibt nur Puzzlesteine." So hat etwa der Salzburger Kinder-und Jugendpsychiater Leonhard Thun-Hohenstein erhoben, dass rund zehn Prozent der Jungen psychiatrisch behandlungsbedürftig und weitere zehn Prozent gefährdet sind. Die Gesamtzahl der psychischen Erkrankungen ist in den vergangenen 50 Jahren gleich geblieben, jedoch haben etwa Hyperaktivität oder Störungen des Sozialverhaltens zugenommen. Kein Wunder, dass auch immer mehr Medi kamente gegen ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung) verschrieben wurden. Laut einem Bericht des Gesundheitsministeriums vom Vorjahr ist die Zahl der Patienten zwischen 2008 und 2011 von 6066 auf 8171 gestiegen. Ob diese Verschreibungen tatsächlich notwendig und die Diagnosen sorgfältig gestellt waren, ist nach Ansicht von Klaus Vavrik eine andere Frage. Zudem hätten Störungen wie "Hyperaktivität" immer etwas mit dem Umfeld zu tun: "Wenn dieses davon ausgeht, dass Kinder ständig still sitzen sollen, dann werden sie auch schnell als störend wahrgenommen."

Womit man beim Thema Bewegung wäre. Dass insbesondere städtische Kinder oft einfachste Übungen wie Purzelbäume nicht mehr beherrschen, zeigt sich laut Judith Glazer, Präsidentin der Gesellschaft der Schulärztinnen und Schulärzte Österreichs, sehr häufig. Eine systematische Zusammenschau der Schulreifeuntersuchungen an Fünfjährigen gibt es jedoch nicht. Was Wien betrifft, so ortet Schulpsychologin Mathilde Zeman bezüglich Motorikdefiziten "kein signifikantes Ansteigen" - ebensowenig wie bei den Verhaltensauffälligkeiten.

Gar nicht alarmistisch liest sich auch die WHO-Studie zu "Health Behavour in Schoolaged Children" (HBSC), die alle vier Jahre das Befinden der Elf-bis 17-Jährigen erfragt. Demnach hat sich sowohl die psychische Gesundheit als auch das Bewegungsverhalten der österreichischen Schülerinnen und Schüler nicht wirklich verschlechtert. "Wir erwarten auch für 2014 keine Verschlechterungen, weil gerade in den letzten Jahren durch Nationale Strategiepläne oder die ,Gesunde Schule' sehr viel gemacht wurde", erklärt Rosemarie Felder-Puig vom Ludwig Boltzmann Institut für "Health Promotion Research" in Wien. Sollte es gelingen, die 50-Minuten-Einheiten an den Schulen zugunsten längerer Einheiten -und Pausen mit Bewegungsmöglichkeit! - aufzulösen, würde sich die Situation weiter verbessern.

Woher dann der ganze Jammer an den Schulen? Felder-Puig formuliert es so: "Es haben sich einfach die Rahmenbedingungen verändert: Lehrer dürfen immer weniger disziplinär einschreiten, die Kinder sind durch Medien überreizt und die Eltern üben durch die angespannte wirtschaftliche Lage zusätzlichen Druck auf sie aus, dass sie den sozialen Aufstieg durch Bildung schaffen." "Gestörter" oder "pathologischer" seien die Kinder deswegen noch lange nicht.

"Kinder nicht kränker machen"

Dessen ist sich auch die Sonderpädagogin Anja van Velzen bewusst, die Lehrerinnen und Lehrer in Österreich und der Schweiz hinsichtlich neuromotorischer Entwicklungsförderung schult und sich ein Schulreife-Screening wie jenes in Luftenberg auch an anderen Schulen wünscht. "Es ist natürlich falsch, die Kinder kränker zu machen als sie sind", erklärte sie am Rande der 22. INPP-Konferenz zum Thema "Kindliche Entwicklung und der Faktor Stress" in Wien. "Aber viele Kinder sind wegen mangelnder Bewegungserfahrung besonders belastet und würden nur einen kleinen Anschubser brauchen." Nicht mehr und nicht weniger würde ihr Förderprogramm leisten.

Dieses "Anschubsen" kann freilich auch ganz anders geschehen. Wie etwa bei den "Gatschhüpfern", einer selbstverwalteten Kindergruppe, die jeden Tag -bei Wind und Wetter -auf den Wiener Cobenzl marschiert. 15 Kinder können hier von acht bis 16 Uhr mit einer Betreuerin und einem Zoologen Schnecken betrachten oder Baumhäuser bauen. Die Eltern, darunter viele Architekten und Psychologen, zahlen für diesen Luxus 190 Euro monatlich und sehen über so manchen Dreck hinweg. Hauptsache, ihr Kind entwickelt sich zum ruhigen Klettermax -und nicht zum Zappelphilipp.

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