Knietief in der Mystik

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Harry Mulisch bedient auf der Bildungsorgel alle Register der Esoterik und der Kabbala. perfektioniert er die postmoderne Esoterik

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Harry Mulisch bedient auf der Bildungsorgel alle Register der Esoterik und der Kabbala. perfektioniert er die postmoderne Esoterik

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Harry Mulisch kann man auch einmal Beliebigkeit nachsehen. Er versteht es jedenfalls, den Blick auf das Ende seiner Hauptperson so geschickt zu verschleiern, daß der Gedanke, das könne doch nicht schon alles gewesen sein, fast blasphemisch erscheint. Aber wir wollen die Kritik nicht vom Schwanz des Pferdes her aufzäumen. In diesem Fall würde es sich freilich anbieten. Trotzdem wird der Leser um Geduld gebeten.

Mulisch ist nicht nur ein Meister des Erzählens, sondern beherrscht auch den Trick, oder hat einfach die Gabe, ein intimes Verhältnis zwischen Leserin und Leser und dem geschriebenen Wort herzustellen: "Klar, ich kann natürlich mit der Tür ins Haus fallen und mit einem Satz beginnen wie ,Das Telefon läutete'. Wer ruft wen an? Warum? ... Wer sofort mitgezogen werden will, der kann dieses Buch besser gleich wieder zuschlagen, den Fernseher einschalten, um die Zeit totzuschlagen und sich auf der Couch nach hinten lehnen, wie in einem warmen Schaumbad". Der Autor wirbt also nicht um seine Leser, sondern schreckt sie ab, oder tut so. Um im zweiten Kapitel, beziehungsweise "Heft", wie er es nennt (warum, erfahren wir bis zum Schluß nicht) festzustellen: "So, das wäre geschafft. Wir sind unter uns. Die unreinen Mitleser sind vor all diesen gespenstischen Buchstaben Hals über Kopf geflohen."

Am Anfang steht bei Mulisch die Schöpfung, seine Geschichte der Erschaffung des Menschen, die "als höchste Ode an die Schrift" erscheint, die je verfaßt wurde. Auch die Unmöglichkeit, eine Geschichte zu erzählen, findet plötzlich eine Art Entschuldigung im Verweis auf die Schwierigkeit, die Schöpfung zu erklären, vor allem, wenn ein geheimes Buch "Sefer Jezira" für die Erklärung der ersten Tage der Welt herangezogen wird. "Die Erzählung als solche ist der eigentliche Erzähler, sie erzählt sich selbst; vom ersten Satz an ist die Erzählung auch eine Überraschung für den Erzähler, und das wissen alle Erzähler".

Das heißt also: Es gibt eine andere Welt außer der, die wir sehen können, und manchmal schreibt sich diese Welt, schreiben sich die Geschichten von selbst. Der Meistererzähler Harry Mulisch läßt die Geschichte sich selbst erzählen, er muß nicht erklären, und plötzlich sind wir, ohne es richtig zu merken, bei Rabbi Löw und dem mystischen Ritual der Erschaffung des Golem. Auch hier geht es einzig und allein um die Kraft der heiligen Buchstaben. So sind die Töne, die Kombinationen von Lauten, mit denen der Rabbi den Lehm belebt, "drei pro Sekunde, alle Vokalisationen, jedesmal gekoppelt an einen Buchstaben des Tetragrammatons - die erste der einunzwanzig Reihen immer mit dem Glottischlag des Aleph beginnend".

Unversehens langen wir bei Victor Werker an, der am Anfang des Textes wie zufällig, fast nebenbei, erwähnt wurde und dessen Telefon im ersten Satz des Buches hätte läuten können, wenn der Autor es gewollt hätte. Victor Werker ist aufgetaucht, als ginge es in eine der kleinen Erzählgassen, durch die der Autor schweift, vielleicht auch eine Sackgasse. Da Werker jedoch Vater wird, geht das Leben weiter, die Geschichte faßt Tritt. Der anerkannte Mikrobiologe Victor schreibt Briefe an seine Tochter Aurora. Mit der Entdeckung der Eobionten ist er dem Rätsel des Lebens auf die Spur gekommen und berühmt geworden. In seinen Briefen kommt die Geschichte der Familie zur Sprache. Die Feindschaft des Naturwissenschaftlers Brock, eines Mitarbeiters von Werker, wird greifbar. Brock fühlt sich um seinen Anteil an der Entdeckung der Eobionten betrogen, zu Unrecht natürlich. Die Notation des DNA-Codes gerät plötzlich zu einer ähnlichen Folge von Symbolen und Lauten, wie sie bereits Rabbi Löw vor Jahrhunderten gemurmelt hat. Doch in der Postmoderne sind die Wissenschaftler nicht mehr bloße Spezialisten, sie denken und philosophieren, kennen Literatur und schreiben Literatur, zumindest wenn sie Briefe an ihre Töchter schreiben. Es gibt fast keine Wunder mehr, alles scheint entschlüsselt, fast alles. Ein Wunder gibt es, schreibt Werker, "daß es dich gibt und daß es überhaupt etwas gibt. Das Entstehen von Raum und Zeit aus dem Nichts". Doch auch dieses Wunder ist fiktiv, denn Aurora hat nie gelebt, wurde tot geboren. Clara, die Mutter, hat Victor verlassen. Die letzten Rätsel der Welt treten mit dem Fortgang der Geschichte in den Hintergrund, werden plötzlich Kulisse und das Geschehen erzählt sich in Richtung eines mysteriösen Kriminalfalls. Victor wird Zeuge eines Gesprächs von Handy zu Handy, in dem jemand einem Mann Anweisungen für die Ausführung eines bestellten Mordes gibt. Mehr darf hier nicht mehr enthüllt werden, die Pointe am Schluß sitzt, doch ist dies nicht ein bißchen unbedeutend angesichts des ganzen Universums, das der Autor bemüht hat und das wir Seite für Seite von den Labors bis nach Ägypten, von der Gegenwart bis in mystische Vergangenheiten mit ihm durchschritten haben? Doch halt, nicht er erzählt, die Geschichte erzählt sich ja selbst.

Das Buch ist ein weiterer Beweis dafür, daß die Suche nach einer tieferen Sicht, daß die Debatte über Ethik in unserer Zeit gefragt ist. Ein Autor, der auf der Orgel der humanistischen Bildung spielen kann, der kann auch die Register der Esoterik ziehen und mit dem Fuß die Pedale der Kabbala bedienen. Wuchtige Töne, Melodien, auch ein Ganzes ist zu spüren, doch wenn alles vorbei ist, bleibt es nur Fingerübung eines geschickten Meisters. Esoterik, nicht so hausbacken wie bei Paulo Coelho, sondern vom Feinsten, doch geschrieben im Stil der Zeit. Die unendliche Tiefe, in der wir zu versinken glauben, reicht uns, sobald wir auf die Füße kommen, nur bis zu den Knien. Tief, wenn viele nur knöcheltief waten und manche sich lebenslang den Pelz waschen, ohne je naß zu werden.

Die Prozedur Roman von Harry Mulisch, Carl Hanser Verlag, München 1999, 268 Seiten, geb., öS 350,- /e 25,43

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