Koalition der Willigen

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Wider den Anschein könnten sich die gegenwärtigen Krisen der Europäischen Union als Katalysator für eine erneuerte, entspanntere europäische Gemeinschaft erweisen.

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Wider den Anschein könnten sich die gegenwärtigen Krisen der Europäischen Union als Katalysator für eine erneuerte, entspanntere europäische Gemeinschaft erweisen.

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Europa zerfällt, heißt es in diesen Tagen und Wochen vielfach; Rückfall in nationale Egoismen wird allerorten konstatiert, ein kühnes politisches Projekt, ein "Traum" gar, gehe zu Ende; Karikaturisten und Cartoonisten zeichnen das hässliche Bild eines von Stacheldrahtzäunen durchzogenen, in lauter kleine Einheiten zerteilten Kontinents. Und in der Tat: was sich im Lauf des letzten Jahres zusammengebraut hat, scheint wenig Anlass zum Optimismus zu bieten: Flüchtlingskrise, Eurokrise, "Brexit", neue Ost-West-Spannungen - und all dies vor dem Hintergrund einer dramatisch angespannten geopolitischen Gemengelage.

All diese Dinge können und sollen auch nicht klein-bzw. schöngeredet werden. Aber vielleicht lässt ein nüchterner Blick doch so etwas wie realistische Zuversicht zu. Es ist ja nicht ausgemacht, dass die europäische Entwicklung der Logik der institutionalisierten Eurokraten und beflissenen Berufs-und Gesinnungseuropäer folgen muss, welche eine "immer engere Union" mit dem (zumindest impliziten) Fernziel Vereinigter Staaten vorsieht.

uK &Visegrád

Diese Logik wird insbesondere vom Vereinigten Königreich sowie den sogenannten Visegrád-Ländern Polen, Ungarn, Tschechien und Slowakei infrage gestellt. Darüberhinaus freilich stellen sich auch in anderen Ländern zahlreiche Parteien, Gruppierungen und ein nicht unbeträchtlicher Teil der Bürgerinnen und Bürger dagegen. Die alle als Antieuropäer, Nationalisten, Fremdenfeinde und Schlimmeres zu diffamieren, geht nicht an - wenngleich es natürlich dubiose Erscheinungen gibt. Die extremen Ränder werden indes umso stärker, je schwächer die Mitte der Vernunft ist - sei es selbstverschuldet aus Feigheit, sei es, weil sie von den selbsternannten politmedialen Eliten marginalisiert und skandalisiert wird. Die Entwicklung der deutschen AfD ist dafür ein anschauliches Beispiel.

In der Flüchtlingsfrage ist diese Euro-Logik besonders spektakulär gescheitert: Zentralistisch-planwirtschaftliche Verteilungsquoten auf Basis symbol- wie realpolitisch prinzipiell offener, ungesicherter Außengrenzen waren schlicht nicht durchsetzbar - diesen Blankoscheck wollte niemand ausstellen, manche haben es nur deutlicher und früher als andere gesagt. Nun haben die einzelnen Länder, insbesondere an der Balkan-Route, die Dinge selbst in die Hand genommen. Sie warten nicht länger auf die ominöse "gesamteuropäische Lösung", sondern lassen erkennen, dass sie "Grenzsicherung" ernst zu nehmen bereit sind.

Mehr Nationalstaat, weniger Europa? Ja, das bedeutet es zunächst zweifellos. Aber vielleicht ist das, was sich in der Flüchtlingskrise besonders deutlich manifestiert, langfristig auch eine Chance. Vielleicht ist es nach der moralistisch aufgeladenen Überdehnung Europas der vergangenen Jahre und Jahrzehnte notwendig, ein wenig Luft herauszunehmen.

Kooperation & Wettbewerb

Es könnte dann in Europa eine erneuerte "Koalition der Willigen" entstehen: von Ländern, die zur Zusammenarbeit in entscheidenden Fragen bereit sind; die sich vor allem auf die ursprünglichen Stärken der EG /EU besinnen, nämlich die Schaffung und Erhaltung einer Zone von Sicherheit, Freiheit und Wohlstand - auf der Basis nationalstaatlicher Souveränität, im Geiste der Zusammenarbeit, wo es sinnvoll erscheint, aber zueinander im Wettbewerb stehend, welcher für Dynamik und Lebendigkeit sorgt.

Gewiss, das mag allzu idealistisch klingen. Aber der Weg dürfte, wie verschlungen auch immer, letztlich doch in diese Richtung führen. Mit der Peitsche der "Alternativlosigkeit" wird sich die europäische Integration in der bisherigen Art und Weise jedenfalls nicht mehr vorantreiben lassen. Im besten Fall sind wir gerade Zeugen des Entstehens einer neuen, besseren, entspannteren europäischen Gemeinschaft. Noch ist Europa nicht verloren.

rudolf.mitloehner@furche.at

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