Königsweg nach innen

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Ein Blick in unsere Traumwelt kann überaus Wertvolles zutage fördern. Was wir in der Nacht alles verarbeiten und wozu das Träumen dient.

Seit mehr als 40 Jahren schreibe ich meine Träume auf. Als ich vor kurzem die vielen alten Notizbücher zum ersten Mal durchgelesen hatte, war es für mich ein paradoxes Gefühl, das eigene Leben im Traum, mein "Traumleben“, Revue passieren zu lassen. Manche dieser Träume hätte ich heute genauso träumen können, die Lebensthemen darin sind die gleichen geblieben. Viele davon hatten mir aber nichts mehr zu sagen, waren wie Schaumflecken am Meer, ebenso schnell aus dem Geist verflogen wie sie damals entstanden sind. Als ich mich dann entschloss, ein Buch über das Träumen zu schreiben, erschien es mir, als würden wir ebenso träumen, um zu vergessen, als wir es auch tun, um uns erinnern zu können.

Beide Hypothesen haben etwas für sich. Unter den Theorien darüber, warum und wozu wir überhaupt träumen, die von Psychologen, Neurowissenschaftlern, Evolutionsbiologen etc. zuletzt entwickelt wurden, gehören diese beiden auch dazu. Es scheint, also könnte das Träumen eine Art seelisch-geistige Müllabfuhr wie auch eine Form des wertvollen Recyclings sein.

Wichtige Gehirnzentren, die beim Träumen eine Rolle spielen, sind für Motivation und Intention, aber auch für die Orientierung im Raum zuständig. Damit scheint Sigmund Freud gar nicht so Unrecht gehabt zu haben, dass der Traum eine Form von Wunscherfüllung darstellt: Da ist eine Form von Intentionalität vorhanden, wir wollen beim Träumen auf etwas hinaus.

Träume bei Tieren

Dazu kommt noch die plausible Erklärung, dass das Träumen in der Evolution zum Zwecke einer verbesserten Raumwahrnehmung und Orientierung entwickelt wurde. Fische träumen nicht, vermutlich weil sie in ihrem Element nicht so sehr auf Orientierung angewiesen sind, während Vögel - die sich später als die Fische entwickelt haben - sehr wohl träumen, wahrscheinlich um ihre Flugrouten abzusichern und mit anderen, früheren, zu vergleichen.

Wenn wir Stadtmenschen für drei Wochen auf Urlaub fahren, kann es uns irritieren, dass wir tagsüber entspannt an einem fernen Strand liegen, aber im nächtlichen Traumleben in unserem Heimatort herumirren - wir wollten dem altem Leben im Urlaub entkommen, aber es sucht uns dennoch in der Nacht heim! Später, wenn wir wieder am Heimatort zurückgekehrt sind, fangen wir an, von Gassen und Plätzen am Urlaubsort zu träumen. Vielleicht sind hier die evolutionsbiologischen Reste eines ursprünglichen Bedürfnisses zu sehen, Orte miteinander zu vergleichen, um uns besser zurecht zu finden.

Inzwischen müssen wir uns aber in einer komplexen Kulturwelt orientieren: im Bereich unserer privaten Beziehungen ebenso wie in den öffentlicheren Strukturen unseres Berufslebens. Meine klinischen Erfahrungen lassen mich vermuten, dass wir das Träumen dazu verwenden, oberflächlich wahrgenommene Tageseindrücke, die wir meist schnell wegschieben (obwohl sie für uns bedeutsam wären), im Traum bildhaft ausgestalten und dramatisieren, um sie auch mit anderen Erfahrungen, auch aus der frühesten Kindheit, zu vergleichen und unsere Haltung dazu überprüfen zu können.

Die Schlafforscherin Rosalind Cartwright hat Versuchspersonen alle zwei Stunden geweckt und sich deren Träume erzählen lassen. Damit stellte sie fest, dass wir in der Regel bis zu sieben Mal pro Nacht träumen, und zwar in einem besonderen Muster. Die ersten Träume scheinen mit Ereignissen zu tun zu haben, die wir vor kurzem erlebt haben. Die späteren Träume in der Nacht ziehen andere, vergleichbare Situationen heran, auch aus Kindheit und Jugendalter. Die letzten Träume vor dem Aufwachen enthalten dann den Versuch eines Auswegs, eines Plans oder einer Lösung. Da wir uns aber meist nur an diese letzten Träume einer Nacht erinnern, ist es gleichsam so, als würden wir nur das letzte Kapitel eines Romans lesen, ohne das Vorangegangene zu kennen.

Sicherheit versus Engagement

Die therapeutische Arbeit mit Wiederholungsträumen zeigt uns, dass wir nie genau den gleichen Traum träumen. Wenn wir auf die scheinbar unwichtigen Details im Traum achten - Gegenstände, Farben, Orte usw. - gibt es kleine Veränderungen, die uns aufzeigen, wie wir im Traum fortwährend nach besseren Bewältigungsmöglichkeiten suchen. Je mehr wir uns mit diesen Träumen beschäftigen, umso mehr können wir Entwicklungen feststellen, die sowohl unser Selbstbewusstsein wie unser Einfühlungsvermögen steigern können.

Denn es lassen sich zwei Tendenzen in jedem Traum feststellen: ein Bedürfnis nach Sicherheit sowie ein Bedürfnis nach Aktion und Engagement. Orte und Gegenstände im Traum können uns helfen, uns zu verankern und sicherer zu fühlen. Wenn wir hingegen träumend aktiver mit anderen Personen in Kontakt treten, wollen wir mehr an ihrem Leben teilhaben oder auch Veränderungen in den Beziehungen zu ihnen bewirken. Diese zwei Bedürfnisse sind auch im Wachzustand entscheidend: Wo können wir uns sinnvoll engagieren und aktiv werden, und wo tun wir besser, uns auf sichere, bekannte Positionen zurückzuziehen? Im normalen Leben hindert uns der Alltagstrubel daran, diese Tendenzen genauer zu erkennen, aber in den Träumen werden sie viel deutlicher sichtbar. Wir sehen dann auf dramatisierte Weise klarer, was wir uns im Leben gern mehr zumuten möchten oder lieber doch noch bleiben lassen sollten.

"Social Dreaming“ in Betrieben

Die "typischen“ Träume, die Freud in seiner "Traumdeutung“ erörtert hat - Träume von Fallen, Fliegen, Zahnverlust, Nacktsein in der Öffentlichkeit, Prüfungs- und Hemmungsträume usw. - sind bis heute im Grunde die gleichen geblieben. Ihr Ursprung liegt wohl in frühkindlichen Empfindungen, die wir beim Träumen heranziehen, um unsere emotionale Befindlichkeit bildhaft darzustellen. Der einzelne Traum mag nicht so viel aussagen, aber wenn solche Träume in Serie kommen, können sie auf Lebensprobleme hinweisen, die danach verlangen, ernster genommen zu werden: etwa die Schamangst bei der Entblößung, die Sorge, "den Biss“ im Leben zu verlieren, oder die Schwierigkeit, sich weiter zu entwickeln, weil man sich in seinen Vorhaben zu sehr von Ablenkungen und Nebenbeschäftigungen hemmen lässt.

Aristoteles meinte, der beste Traumdeuter sei jemand, der gut mit Metaphern und Symbolen umgehen kann. Daher nützt es nicht allzu viel, gewöhnliche Traumbücher, die wie einfache Lexika für die Übersetzung von Symbolen gestaltet sind, heranzuziehen. Die Symbolik ist von Mensch zu Mensch, wie auch von Kultur zu Kultur verschieden. In vielen anderen Kulturen ist es üblich, dass Familienmitglieder einander in der Früh ihre Träume erzählen. Heute gibt es auch in der westlichen Organisationsberatung die Methode des "Social Dreaming“, wo Mitarbeiter in Betrieben, Kliniken usw. ihre Träume berichten und damit indirekt die unterschwelligen Ängste und Wünsche in der Institution zur Sprache bringen können. Es lohnt sich also, sich mit seinen Träumen zu beschäftigen, sie jemandem zu erzählen - und es macht uns im Leben wacher!

Der Autor ist Psychoanalytiker in Wien und Berlin und lehrt an der Sigmund Freud Privatuniversität in Wien

Der Mann, der sein Leben einem Traum verdankte.

Ein Traumforscher erzählt. Von Felix de Mendelssohn, Ecowin-Verlag 2014. 302 Seiten, geb., e 22,95

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