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Wiener Festwochen 2005: Klassiker-Interpretationen, Uraufführungen und theatralisch-soziale Recherchen. hatten ein aktuelles Thema und hohe Qualität. Ein Resümee

Wie jedes Jahr, wenn die Wiener Festwochen zu Ende gehen, erleben die Theaterkritiker ihren ersten Sommerabend außerhalb eines Bühnenhauses wohlgenährt mit internationalen Theater-Eindrücken. Nach sechs "Festwochen" (7. Mai bis 19. Juni) sieht die Bilanz heuer so gut wie schon seit zehn Jahren nicht mehr aus. Nicht nur "hochprozentig" ausgelastet, sondern qualitativ stimmig, sowohl auf inhaltlicher als auch künstlerischer Ebene, hat das Festival mit einem facettenreichen Programm seinen Ursprungsgedanken eingelöst und die (in diesem Rahmen 1958 installierten) Europagespräche diesmal zur künstlerischen Ausgangsbasis erklärt.

Der Erfolg mag zum einen damit zusammenhängen, dass Stefanie Carp als Schauspieldirektorin (sie vertrat die karenzierte Marie Zimmermann) Produktionen mit hohem Qualitätsanspruch eingeladen hat, zum anderen, dass die Frage nach dem Konstrukt Europa aktueller denn je ist.

Ungewöhnliche Klassiker

Gegenwärtige Erfahrungen mit Grenzen bzw. Ausgrenzung und dem Aufeinanderprallen unterschiedlicher Lebensformen und Kulturen haben sich in einem ausgewogenen Programm mit ungewöhnlichen Klassiker-Interpretationen (Tschechow, Büchner, Marivaux), Uraufführungen (Tom Lanoye, Kathrin Röggla, Yasmina Reza, Marius IvaskeviÇcius) und theatralisch-sozialen Recherchen (Peter Brook, Christoph Marthaler, David Maayan) präsentiert.

Allen voran nahm Luk Perceval mit der Uraufführung von Marius von Mayenburgs "Turista" das Problem der Verständigung innerhalb eines geeinten Europa mit seinem großen Ensemble aus Belgien, Deutschland, Schweiz und Österreich beim Wort. Flämisch sprechende Schauspieler vom Antwerpener Het Toneelhuis spielen mit deutsch sprechenden der Berliner Schaubühne, das "Einander verstehen" gelingt allerdings nur dem Liebespaar in der Phase der Annäherung.

Das Problem des europäischen Sprachenbabels haben die Festwochen heuer besser denn je bewältigt, wohl auch, weil es selbst Thema war. Bei fremdsprachigen Inszenierungen waren die ansonsten üblichen Simultanübersetzungen ganz durch die Lösung mit Obertiteln ersetzt, wodurch der Fokus stärker auf das Spiel gerichtet war: eine kluge Entscheidung.

Mitten im Bahnhofsbetrieb zwischen realen An- und Abfahrten stellte Tom Lanoyes "Fort Europa" die Frage der Migration auf den Kopf: Was passiert, wenn die Europäer nicht mehr ausreisen dürfen? Johan Simons hat inszeniert, sein Projekt im öffentlichen Raum blieb jedoch bei einem zwiespältig aufgenommen Versuch von Konstruktion von Nationalität.

Als ehemalige Christoph Marthaler-Dramaturgin hat Carp den Meister der Pause mit seiner viel gelobten Inszenierung von "Dantons Tod" eingeladen. Daneben hat er die theatralisch-musikalische Recherche "Schutz vor der Zukunft" eigens für Wien im Otto-Wagner-Spital als bedrückendes Zeitdokument eingerichtet, das die Euthanasiepraxis der Nazis mit Biografien heutiger Patienten verbindet. In Schostakowitsch' "Präludien und Fugen" findet die innere Emigration ihre musikalische Entsprechung. Mit dem Liederabend "O. T. Eine Ersatzpassion" im leeren Büchner-Bühnenbild fand der Marthaler-Schwerpunkt als eindeutiges Highlight seinen genialen Abschluss.

Stefanie Carps neuer Chef (sie beginnt ab der kommenden Saison an der Berliner Volksbühne als Chefdramaturgin), Frank Castorf, hatte im Theater an der Wien sein Stell-dich-ein: Dostojewskis Russland ist bei ihm in "Schuld und Sühne" ein düsterer Moloch des alles einnehmenden Kapitalismus. Der Westen frisst den Osten, egal was da Europa behauptet und was mit der Absage der Niederlande und Frankreichs an die eu-Verfassung auch innereuropäisch angezweifelt wird.

Neben einer in Wien ansonsten nicht zu sehenden Kapazunder-Riege der Regie im Hauptprogramm gingen die forumfestwochen ff mit chilenischen, litauischen, iranischen und südafrikanischen Produktionen in die Außenperspektive auf Europa: Ironisch thematisierte "Madagaskaras" nationalistische Tendenzen und die Angst vor dem Identitätsverlust innerhalb der Staatenunion. Das Stück basiert auf einer realen Begebenheit und erzählt von der abstrusen Idee eines Geopolitikers der Zwischenkriegszeit, Litauen nach Afrika zu versetzen. Mit ihrem expressiven Spielstil, der auf der kleinen Bühne des Schauspielhauses eine ungewöhnliche Wirkung zeigte, reüssierte das Kleine Theater Vilnius ebenso wie die bunte Untergangs-Show "Big Dada": Hier befinden wir uns in Uganda während der Diktatur von Idi Amin. Brett Baileys hochstilisiertes Musik-Spektakel will von Betroffenheit nichts wissen. Als theatrale Comics fährt die unglaubliche Brutalität "Big Dadas" unter die Haut, die als Kriegs-Parabel - wie auch Peter Brooks stille Arbeit "Tierno Bokar" - thematisch die "Dritte Welt" mit einbeziehen.

Mutige Projekte

Die Wiener Festwochen sind kein Wettbewerb, aber wären sie es, müsste man sich heuer ernsthaft die Frage stellen, ob nicht die "Werkschau" forumfestwochen ff das Hauptprogramm in vielem schon überholt hat. Zeitgemäße Performances, kurzweilige, gewagte Regiearbeiten und mutige Projekte boten eine anspruchsvolle Plattform für Nachwuchskünstler.

Auch wenn die Festwochen heuer ein Win-win-Spiel waren, so stehen Luk Percevals "Oom Vanja" als flämische Interpretation innerer Entfremdung und sein "Turista" gemeinsam mit den Marthaler-Projekten als hochkarätige Ensembleleistungen an der Spitze einer kompakten Programmfülle.

Und nicht zuletzt hat auch die Festwochen-Organisation recht unkompliziert trotz zahlreicher Aus- und Unfälle besondere Kundenfreundlichkeit bewiesen. Damit haben die Wiener Festwochen 2005 als Festival des Pluralismus mit ihren vielfältigen Formen der Aneinander-Annäherung ein Exempel für die Zukunft gesetzt.

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