Konstruktivismus und Kohlsuppenleben

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Reales und Fantastisches vermischt der deutsche Schriftsteller Stephan Groetzner in seinem neuesten Prosa-Band "Tote Russen". Eine Gattungsbezeichnung muss für diesen anspielungsreichen und unvorhersehbaren Text erst erfunden werden.

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Reales und Fantastisches vermischt der deutsche Schriftsteller Stephan Groetzner in seinem neuesten Prosa-Band "Tote Russen". Eine Gattungsbezeichnung muss für diesen anspielungsreichen und unvorhersehbaren Text erst erfunden werden.

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Literatur hat etwas Zwingendes. Sie leistet Überzeugungsarbeit, möchte den Leser nicht nur Leser sein lassen, sie hat etwas vor mit ihm. Er soll zum Parteigänger einer Haltung, einer Sichtweise, einer Ideologie, einer Einstellung, einer Weltgestaltung gemacht werden. Der Leser wird als Freund im Geiste begrüßt oder als Gegner abgestoßen.

Literatur, die nicht nur Zeitvertreib sein will, weiß aber dann doch, so bestimmt auch immer sie in Erscheinung zu treten vermag, nicht restlos Bescheid. Deshalb stellen sich dem Leser Fragen, die dem Verfasser, der Verfasserin aufgehen und für die verbindliche Antworten noch nicht gefunden sind. Literatur sucht sich eine Spur durch eine reichlich unübersichtliche Wirklichkeit und muss dann doch sehr oft betreten klein beigeben, weil die Sache mit der Wahrheit einfach nicht zu klären ist.

Wirklichkeit, Wahrheit, welch große Begriffe, einschüchternd durch die Last ihrer Tradition und durch die denkerischen Vorleistungen, die schon unternommen wurden, um grüne Zweige, die man schon in Reichweite wähnte, dann doch nur aus der Ferne bewundern zu dürfen. Wirklichkeit, Wahrheit, welch große Begriffe, die, wenn man nicht ob ihrer Unnahbarkeit resignieren will, in jedem Fall für den Spott gut sind.

Im Spott, im Hohn, im Sarkasmus und der Ironie ist Stephan Groetzner zu Hause. Im Kleinkriegen des Großen und Mächtigen, im Verzwergen des Einschüchternden, im Abschminken des Herausgeputzten beweist er seine allmächtige Fantasie.

Wahrheit, wozu?

So jemand wie Stephan Groetzner kann man jagen mit Begriffen wie Wahrheit und Wirklichkeit. "Wozu überhaupt ,Wahrheit'? Ist die Realität nicht schon schlimm genug?" Das Zitat könnte als Motto für das ganze Buch dienen. Das fragt Groetzner einmal in seinem jüngsten Buch, für das eine Gattungsbenennung erst erfunden werden muss. Er fragt nicht selbst, er lässt fragen, und zwar einen windigen Erzähler, der in seiner flüchtigen, wandelbaren Erscheinung nicht recht zu fassen ist. Überhaupt ist schwer zu definieren, was in dem Buch überhaupt verhandelt wird. Sprunghaft und unsystematisch geht es zu, von einem Faden, an dem man sich entlang hangeln könnte, nirgends etwas zu sehen.

Hmm, stimmt nicht ganz, einen Faden in Form von Motiven, die angetippt werden, verschwinden, sich unvermutet wieder zeigen, gibt es ja. Nur ist er zerstückelt. Wenn man nicht damit rechnet, sieht man sich wieder einem Motiv gegenüber, dem man schon einmal begegnet ist, aber es hat sich so verändert, dass es mit seiner vorigen Erscheinung nichts mehr gemein hat.

Man nehme nur Rachmaninow. Der Name erinnert an den Komponisten, der Autor spielt mit der Assoziation, um dann einen durch und durch ausgedachten zu präsentieren. Er spricht selbst in eigener Sache, und Groetzner hat nichts dagegen, dass er seine Biografie etwas gar dramatisch aufmotzt. Geht in Ordnung so, ist sehr witzig, voller Anspielungen an Kultur und Geschichte, aberwitzig und haarsträubend, vorhersehbar nie.

Kulisse für Unerklärliches

Der Groetzner'sche Rachmaninow ist ein Talent, das aus den Wäldern den Aufbruch in die Stadt wagt. "Im Petrochemischen Institut ließ ich das Stück Waldboden, die paar Krümel Heimaterde, die ich die ganze Zeit in ein Kohlblatt eingewickelt in der Tasche mit mir herumgetragen hatte, petrochemisch untersuchen." So steht er da, der Satz, dem man von weitem ansieht, dass er mit Authentizität nichts im Sinn hat.

Man könnte sich über die Einfälle freuen und es dabei belassen. Geht aber nicht, weil Stichwörter verteilt sind, die schon einmal Bedeutung entwickelten: Waldboden und Kohlblatt. Der Wald, als unübersichtliches Gelände für die Weite und Unübersichtlichkeit Russlands stehend, bildet eine Kulisse, in der, manchmal wie im großen Film, manchmal wie auf der Kasperlbühne, sich Unerklärliches abspielt. Oft weiß man nicht, ob im nächsten Augenblick der Räuber Hotzenplotz aus dem Gebüsch kriechen wird oder ob eines der finsteren existenziellen Dramen Andrej Tarkowskis ihren Anfang nimmt. Und Kohl kennen wir nicht nur aus den Erinnerungen Rachmaninows in der Version von Groetzner, sondern schon aus einem früheren Zusammenhang. In einem dünnwandigen sozialistischen Wohnblock beäugen sich Nachbarn argwöhnisch. Der eine bekommt das Leben der Nachbarn hautnah mit, "ihre ewigen Kohlsuppen", um bald darauf zurückgezogen selbst "ein Kohlsuppenleben" zu führen, eine typische Arme-Leute-Existenz. Und einmal lösen Kinder ein Kohlblatt vom Kopf ihres Onkels, und noch eines, bis sie auf eine von diesen verdeckte Wunde stoßen.

Alles nur Spiel

Es geht kreuz und quer mit Verweisen und weitergereichten Motiven, nur hüte man sich vor Sinnkonstruktionen. Die reißt Groetzner rücksichtslos nieder. Jeden Augenblick macht er deutlich, dass es sich um Literatur handelt, und die darf machen, was sie will. Alles, was er anstellt, kann er unwillkürlich rückgängig machen. Alles Schreckliche bleibt ohne Folgen, weil er wie im Zeichentrickfilm sagen kann: "Nicht schlimm, alles nur Spiel." Und ist einer gerade noch gestorben, darf er wenig später wieder dabei sein, als wäre nichts gewesen. Ist tatsächlich nichts gewesen? Doch, natürlich, aber das spielte sich im Kopf ab und ergibt deshalb -nennen wir diese große Wort einfach so -eine eigene Wirklichkeit auf Widerruf.

Die "toten Russen", von denen im Titel die Rede ist, sind so große Namen wie Gogol und Dostojewski, Rachmaninow und Tschechow, sie dürfen aber eine sehr freie, vom überlieferten Leben weitgehend unabhängige Existenz führen. Diese Literatur sieht aus, als käme sie gerade aus dem Lotterbett des Avantgardisten Daniil Charms. Aber auch der Franzose Raymond Queneau hat seinen Anteil an diesem Buch, das aufräumt mit einer Welt, die sinnvoll und ordentlich eingerichtet ist.

Tote Russen Von Stephan Groetzner Droschl 2015 176 Seiten, gebunden € 19,60

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