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Ich kannte eine alte Frau, die gerne sang. Es wäre übertrieben zu sagen, dass sie immerzu sang, aber ich glaube, den halben Tag lang doch: Leise, für sich, gerade so, dass man es noch hörte, wenn man sich im Nebenzimmer aufhielt oder vor den geöffneten Fenstern ihrer Wohnung vorbeiging. Sie hatte keine ausgebildete Stimme und auch nur ein durchschnittliches Gehör. Aber sie kannte unzählige Lieder, für jede Stimmung und jede Gelegenheit ein paar. Sie sang, weil ihr das Arbeiten mehr Freude machte, wenn sie dazu eine Arie aus einer Oper summte. Oder weil sie sich an ein Lied erinnerte, das in ihrer Jugend populär war. Vielleicht war es manchmal auch umgekehrt und sie sang ein altes Lied, weil sie sich daran erinnern wollte, wie es früher war. Wenn ich bei ihr zu Besuch war und mir etwas weh tat, dann hat meine Oma mir gleich ein besonderes Lied vorgesungen, denn sie kannte die Zauberlieder gegen Nasenbluten und gegen aufgeschürfte Knie und natürlich die Trostlieder für das große Seelenleid.

Vorige Woche las ich in der Zeit ein Interview mit der Geigenvirtuosin Anne-Sophie Mutter. Man weiß es ja, die besondere Begabung für eine spezielle Fertigkeit - etwa das Streichen einer Violine - schließt die Beschränktheit auf anderen Gebieten - z. B. des Denkens oder des moralischen Empfindens - keineswegs aus. Und so erfuhr ich, dass die Virtuosin von einem Konzert auf dem Mond träumt, denn die irdische Welt scheint ihr für ihre hohe Kunst zu mickrig. Sie sehnt sich nach "Kraterlandschaften. Kein Publikum. Riesige Satellitenschüsseln übertragen Bachs Solosonaten ins Universum und locken Lebewesen an, von denen wir heute noch nichts wissen." Gesetzt, es gäbe solche Lebewesen: Als Gruß der Menschheit würde ich sie lieber mit dem Trostlied meiner Oma empfangen; aber deren Stimme ist schon seit 30 Jahren verweht, dorthin, wo auch riesige Satellitenschüsseln nichts mehr vermögen.

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