Kraftmensch für die Herkules-Aufgabe

Werbung
Werbung
Werbung

In Bulgarien, dem Armenhaus der EU, schreibt die „Süddeutsche Zeitung“, muss der neue Premier eine zerrüttete Gesellschaft aufrichten.

Nicht zum ersten Mal haben die Bulgaren sich einen Erlöser gewählt. 1997, nach einer katastrophalen Krise, die an den Rand des Staatsbankrotts führte, setzten sie all ihre Hoffnungen auf den Konservativen Iwan Kostow, der tatsächlich das Ruder herumriss und die Wähler dennoch enttäuschte. Vier Jahre später wurde der zurückgekehrte frühere Zar Simeon von Sachsen-Coburg und Gotha zur Heilsgestalt. Und jetzt, da die Königspartei nach acht Jahren im Abstellraum der Geschichte verschwindet und ihr Führer abdankt, erscheint den meisten Menschen ein früherer Feuerwehrmann, Karatetrainer, Polizeigeneral und Inhaber einer Sicherheitsfirma als Retter aus der Not. Boyko Borissow, derzeit Oberbürgermeister von Sofia, wird nach dem Wahltriumph vom Sonntag der neue bulgarische Ministerpräsident.

Der Sportsmann mit dem Gehabe eines Preisboxers bräuchte herkulische Kräfte, wollte er die auf ihn gerichteten Erwartungen erfüllen. Bulgarien ist auch 20 Jahre nach dem Kollaps des Kommunismus noch längst nicht gesundet von gesellschaftlichen Zerrüttungen, unter denen die endemische Korruption, die ethische Skrupellosigkeit und der Unwille zum demokratischen Kompromiss die übelsten sind. Die schöpferischen Kräfte einer alten Kulturnation, die nicht nur Schachweltmeister hervorgebracht hat, liegen brach. Noch immer fehlt dem Land ein geordnetes Verfahren zum Ausgleich der Gegensätze und zur besseren Beteiligung der Bürger.

Krasse Abweichungen von der demokratischen Norm

Dieses Schicksal teilt Bulgarien mit allen anderen postkommunistischen Staaten. Nur waren in dem Balkan-Staat nach dem EU-Beitritt 2007 ein paar besonders krasse Abweichungen von der demokratischen Norm festzustellen: die Mordserien der Mafia, der schamlose Missbrauch von EU-Geldern, das Zusammenspiel der alten Seilschaften zur eigenen Bereicherung und die störrische Verweigerung der Justiz in vielen Fällen.

Bulgarien ist „der kranke Mann am Schwarzen Meer“

Besonders aufschlussreich war der 2008 erzwungene Rücktritt des sozialistischen Innenministers Rumen Petkow, der einerseits die EU-Kollegen zu beruhigen suchte und sich andererseits mit zwei mutmaßlichen Unterwelt-Bossen traf. Nimmt man das Gebaren mancher Neo-Oligarchen wie des Türken-Führers Ahmed Dogan und die jüngsten Fälle von Stimmenkauf hinzu, dann erscheint das Land als kranker Mann am Schwarzen Meer, so wie vor 200 Jahren das geschwächte Osmanische Reich als „kranker Mann am Bosporus“ bezeichnet wurde. Aber Bulgarien ist kein zerfallendes Imperium, sondern eine kleine Nation am Anfang einer neuen Ära. Ein großer, durch Misswirtschaft verschuldeter Rückstand ist aufzuholen. Im ärmsten Mitgliedsstaat der EU verbrauchen noch immer Millionen Menschen fast all ihre Kraft für den täglichen Überlebenskampf, und Zigtausende gut ausgebildeter junger Menschen haben der Heimat den Rücken gekehrt.

[…]

Als Polizei-Chef im Innenministerium und Oberbürgermeister von Sofia hat sich Borissow vor allem durch Mediengeschick hervorgetan. Das größte Problem der Hauptstadt indes, die marode Müllentsorgung, ist weiter ungelöst. Wie andere Parteiführer in Mittel- und Osteuropa hat der Meister einen Hang zu populistischen Tiraden erkennen lassen. Jetzt wird mehr von ihm verlangt. Versagt er, dann wird er rasch vom Volk bestraft werden. Bisher ist es seit 1989 noch keiner Regierung gelungen, nach Ablauf ihrer Amtszeit wiedergewählt zu werden.

* Süddeutsche Zeitung, 7. Juli 2009

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung