Krieg in der Mittelschicht

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Simon Stephens "Motortown" überzeugt in der Regie von Andrea Breth am Wiener Akademietheater.

Nach zwei Jahren ist nun wieder eine Inszenierung von Andrea Breth in Wien zu sehen. Ihr gelingt die österreichische Erstaufführung von Simon Stephens "Motortown" trotz der problematischen, weil wortgetreuen, Übersetzung von Barbara Christ. Die erstklassige Uraufführung der Originalfassung der Geschichte des Kriegsheimkehrers Danny war bereits 2006 als Produktion des Royal Court Theatre bei den Wiener Festwochen zu sehen.

Breth geht an Stephens' zerklüftete Dramaturgie (für die Georg Büchners "Woyzeck" als Vorbild diente) naturalistisch heran. Der Rhythmus des Stücks entspricht der traumatisierten Persönlichkeitsstruktur des Protagonisten, die Einzelszenen sind in sich geschlossene Teile, die Danny von Anfang an in seiner Unberechenbarkeit darstellen. Harte akustische Schnitte, die wie Granaten klingen, machen die Innenwelt der Hauptfigur deutlich.

Nicholas Ofczarek als Danny etabliert mit seiner einzigartigen körperlichen Durchlässigkeit eine Figur, die sich wie ein Raubtier verhält und im eigenen Ich gefangen ist. Seine Gewaltbereitschaft liegt ständig auf der Lauer, er handelt von sich selbst entfremdet, während ein anderer Teil seiner Persönlichkeit über menschliche Anteile verfügt. Ofczarek ist mit Buben-Blick und rotblondem Kurzhaarschnitt ein großgewordener Teenager - großgeworden jedoch im Irakkrieg, nach dessen Regeln er in der versnobten englischen Mittelschichtsgesellschaft agiert. Dass er seine frühere Freundin Marley (Johanna Wokalek) nicht mehr zurückgewinnen kann, will er nicht wahrhaben, an Enttäuschung ist der "Held" nicht gewöhnt. Ihre Ablehnung löst Dannys Aggression aus, die sich an der 14-jährigen Schwarzen Jade (Astou Maraszto) entlädt. Er ermordet sie an einem idyllischen Ort an der Küste.

Unmittelbar nach der Tat lernt er die Fernsehproduzentin Helen (Andrea Clausen) und den Lehrer Justin (Udo Samel) kennen, die ihn auf ihr Zimmer einladen, "nur zum Sex", lassen ihn die Anhänger der Antikriegsbewegung wissen. Ihre Doppelmoral und der Zynismus des Kriminellen Paul (Wolfgang Michael als verrückt-abgehobener Schwadroneur) sind Teile dieser Gesellschaft, für die keine moralischen Kategorien zu existieren scheinen.

Einzig integer in Stephens komplexem Drama ist Dannys autistischer Bruder Lee, dessen dramaturgische Bedeutung (als "Narr" die Wahrheit sagen zu dürfen) Markus Meyers eindimensionale Darstellung leider verschenkt.

Er ist weit mehr als ein Idiot mit Hasenzähnen, sondern ein einseitig Hochbegabter, der über ein außergewöhnliches Zahlengedächtnis verfügt. Die Kraft der Zahlen stellt Breth als Symbol ihrer Inszenierung voran bzw. schließt auch damit. Die Fordfabrik Dagenham mit der Nummer 90037 steht für den Primat der Wirtschaft über die Politik, der Resultate wie den industrieverelendeten Schauplatz mit seinen Bewohnern zum Preis hat.

Der Raum (Annette Murschetz) ist durch einen Rahmen abgesteckt, dessen farbliche Ausleuchtung Wohnung, Hotel oder Strand behauptet. Der Rest ist zerstörter Boden: alte Autoreifen und verrostete Felgen.

Der Irakkrieg lässt sich nicht darstellen, wohl aber der Krieg innerhalb einer Gesellschaft, die stets den Schwächeren die Schuld zuschiebt.

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