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Vor 200 Jahren wurde der Brand von Moskau zum Fanal für die Katastrophe der Grande Armée. Historische Betrachtungen im Lichte von Leo Tolstois Epochenroman "Krieg und Frieden“.

"Nun gut, mein Fürst, Genua und Lucca sind weiter nichts als Güter der Familie Bonaparte!‘ So sprach im Juni 1805 die bekannte Anna Pawlowna Scherer, Hofdame und Vertraute der Kaiserin Maria Fjodorowna.“ Mit diesen französischen Worten leitet Leo N. Tolstoi seinen Epochenroman ein - "jenes auserlesene Französisch, das unsere Großväter nicht nur sprachen, sondern in dem sie auch dachten“. Die Zarin war die Prinzessin Sophie Dorothee von Württemberg, Gemahlin des 1801 ermordeten Zaren Paul I. und Mutter von Zar Alexander I., Großfürst Konstantin und Zar Nikolaus I. Madame Scherer nahm die Anklage Napoleons von 1812 vorweg - "all die Scheußlichkeiten und all die Greueltaten dieses Antichristen“.

1863 bis 1869 arbeitete Tolstoi an seinem grandiosen Zeitgeschichtsepos und Bildungsroman. Im Krimkrieg hatte er als Offizier an der Verteidigung von Sewastopol teilgenommen und darüber realistisch berichtet; sein Denkmal steht an einer Geschützpforte der blutig umkämpften Festung. 1861 hatte die Aufhebung der Leibeigenschaft durch Alexander II. die russische Gesellschaft bewegt; der Großgrundbesitz wurde allerdings nicht angetastet. Graf Tolstoi rang um das Verhältnis der aristokratischen Besitz- und Bildungseliten zum Volk. Der Titel des Epos "Vojna i Mir“ bleibt merkwürdig ambivalent: "mir“ ist mit Frieden korrekt übersetzt, doch steht "mir“, in russischer Schreibung geringfügig unterschieden, auch für (Dorf-)Gemeinschaft und gerechte Welt- und Gesellschaftsordnung.

Sibirisches "Totenhaus“

In diesem siebenten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts bezeichnete der durch das sibirische "Totenhaus“ hindurchgegangene Dostojewski mit "Schuld und Sühne“ und "Der Idiot“ jene psychologischen Probleme, die mit der Moderne im Herrschaftsgefüge des Zarenreiches aufbrachen. Zur selben Zeit formierte sich der Geheimbund "Semlja i Wolja“ ("Land und Freiheit“) als Programm der revolutionären Avantgarde. Einem Attentat aus dem Kreis der Narodniki (Volkstümler) fiel Alexander II. 1881 zum Opfer.

Tolstois Männer tragen autobiografische Züge - und haben viel vom schwankenden Charakter Alexanders I. Pierre Besuchow, ein taten- und haltloser Intellektueller, Trinker und Duellant, Brillenträger und Freimaurer, kehrt von seiner Pariser Bildungsreise in die Petersburger Gesellschaft zurück. Sein Freund, der edle junge Fürst Andrej Bolkonski, wird bei Austerlitz verwundet und fällt 1812 bei Borodino. Audrey Hepburns Filmdarstellung der bezaubernden Natascha (1956), die zu guter letzt Pierres Frau wird, hat das eigentliche Anliegen verschleiert: Wie vollzieht sich "das Leben, die Bewegung der Völker“ im Prozess der bürgerlichen Revolution? Tolstoi ist der Entdecker des modernen Individuums gegenüber den Massen der militärischen und ökonomischen Machtkomplexe seiner Zeit, die er als Pazifist, der erste und größte, überwinden wollte.

Pierre irrt im brennenden Moskau umher, das seit Napoleons Einzug am 14. September in Flammen stand. Er rettet ein Kind und gerät mit vermuteten Brandstiftern in Gefahr, erschossen zu werden. Diese Exekution wird zum Schlüsselerlebnis: "Auf den Gesichtern aller Russen und aller französischen Soldaten und Offiziere ohne Ausnahme sah er Angst, Entsetzen und Kampf. ‚Aber wer macht denn das alles? Sie leiden ja genauso wie ich!‘, blitzte es für eine Sekunde in Pierres Seele auf.“ Der mitgefangene Bauer Platon Karatejew, der mit ihm die letzte Kartoffel teilt, lässt "die Welt, die ihm vorher zertrümmert zu sein schien, jetzt in neuer Schönheit auf ganz neuer unerschütterlicher Grundlage vor seiner Seele entstehen“.

Die Wahrnehmung des Kriegsjahres 1812 bliebe als Konflikt Napoleons mit dem Zarenreich unvollständig. Seit Tilsit und Erfurt 1807/08 schienen Freundschaft und Machtverteilung zwischen dem Kaiser der Franzosen und dem Zar aller Reußen verbürgt. Spaniens "Desastres de la guerra“ (Goya), Österreichs Erhebung 1809, die polnische Frage, ebenso die Folgen der Kontinentalsperre im Ringen mit Großbritanniens Seemacht blieben jedoch ungelöste Probleme. Die skandinavischen Königreiche gingen durch eine schwere Krise, England vernichtete Dänemarks Seemacht, Russland bemächtigte sich Finnlands, General Bernadotte wurde Kronprinz von Schweden und - als Gegner Napoleons - Dynastiegründer. Russland war im Krieg mit dem krisengeschüttelten Osmanischen Reich und strebte nach den Donaumündungen. Die orientalische Frage kündigte sich an; Napoleon wälzte den Plan, nach Bezwingung Russlands einen Alexanderzug nach Indien zu führen. Die Szene erweitert sich zum Weltkrieg: 1812 treten die Vereinigten Staaten in den Krieg mit England. In Südamerika beginnt der Befreiungskampf der spanischen Kolonien. Die Katastrophe der "größten und schönsten Armee der Welt“ (Napoleon), die auf dem Schlachtfeld von Borodino und im brennenden Moskau beginnt, steht im Geflecht dieser globalen Krise. "Es sind Skythen!“ - der Schreckensruf Napoleons bestätigte den Vergleich seiner Vielvölkerarmee mit dem Heerbann der persischen Großkönige.

Das Haus Romanow hatte die Metamorphose zur Dynastie Holstein-Gottorp vollzogen (1762), mit Peter III., dem Gemahl der kleinen Prinzessin Sophie von Anhalt-Zerbst, besser bekannt als Katharina II. Die Große Katharina hatte schon mit der Namenswahl ihrer Enkel, Alexander und Konstantin, das Programm ihres Orientprojekts verraten: Über das Schwarze Meer und Konstantinopel hinaus rückten Balkanhalbinsel und Mittelmeer ins Blickfeld russischer Expansionspolitik.

"… gewiesen ein erhabnes Los …“

Die Übernahme des Kommandos durch den alten russischen General Kutusow erst nach Smolensk lässt die heterogene Zusammensetzung der russischen Generalität im Vaterländischen Krieg erkennen. Der Braunschweiger Graf Bennigsen hatte die Verschwörung gegen Zar Paul I. organisiert, Wittgenstein wurde in der Kiewer deutsch-evangelischen Gemeinde getauft. Fürst Barclay de Tolly, Kriegsminister und Oberkommandant bis zur Ablösung durch Kutusow, war Baltendeutscher mit schottischen Wurzeln. Fürst Bagration stammte aus der grusinischen Dynastie der Bagratiden, er erlag den bei Borodino empfangenen Verwundungen. Der tapfere Eugen von Württemberg war Neffe des Zaren Paul. Graf Hans Karl von Diebitsch trat 1801 aus der Berliner Kadettenschule sechzehnjährig in russische Dienste. Mit Yorck zu Wartenburg, dem Muster des pflichttreuen und eigenständigen preußischen Offiziers, schloss er die Konvention von Tauroggen, die den Feldzug von 1812 in die Befreiungskriege hin-überleitete. Seinen Beinamen Sabalkansky verdankte er seiner Balkanüberschreitung 1829. Diebitsch nahm an der Niederwerfung der polnischen Erhebung teil und starb wenig heroisch 1831an der Cholera - wie auch Clausewitz, der 1812/13 in russischen Diensten stand und seine Lehre "Vom Kriege“ entwickelte.

Ein letztes Paradox: Tolstoi lässt sein zweites Ich Pierre zum Schluss von "unausbleiblicher Revolution“ sprechen, eine Anspielung auf die Erhebung der Dekabristen, liberaler Offiziere, anlässlich des Thronwechsels 1825: Ihr Einsatz zum Sturz der zaristischen Autokratie und ihr Kampf gegen den Feudalismus wurden mit Henkerstrick und Verbannung nach Sibirien bestraft. Puschkin stand diesem Kreis nahe. In der Erkenntnis der revolutionären Dialektik rief er anlässlich des Todes Napoleons 1821: "Heil ihm! Er hat dem Russenvolke / Gewiesen ein erhabnes Los, / Verhieß aus der Verbannung Wolke / Der Welt die Freiheit ewig groß.“

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