Krimis als Inszenierung der Verunsicherung

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Ob Mankells Wallander, ob der Freitagabendalte, ob der Sonntagabendtatort, ob an welchen Orten auch immer angesiedelte SOKOs oder CSI-Teams: Der Krimi ist allgegenwärtig, in Buchhandlungen ebenso wie im Fernsehen. Womöglich gehört er wirklich, wie der französische Soziologe Luc Boltanski behauptet, zu den "verbreitetsten narrativen Formen, und zwar weltweit“.

Narrative, also erzählende Formen machen aber etwas: Sie wählen aus, bringen in Folge und in Zusammenhang, und das gilt auch für den Krimi, der dabei oft besonders schematisch vorgeht. Was ist nicht schon alles - aus psychologischer, literaturwissenschaftlicher, juristischer, philosophischer, theologischer, soziologischer Sicht - über den Krimi als Phänomen geschrieben worden, über die Lust an Verdacht und Verbrechen, das Schema von Gut und Böse seit Kain und Abel, die Unterschiede von Legalität und Moralität, den ungebundenen Detektiv und den dem Gesetz verpflichteten Polizisten, den Aufbau von Spannung und die Erlösungssehnsucht …

Zeit der Nationalstaaten

Warum haben Kriminalromane seit ihrer Entstehung so viele Generationen von Lesenden derart fasziniert, fragt auch der Soziologe Luc Boltanski und schaut, um Antwort zu finden, in seinem mit dem Prix Pétrarque de l’essai ausgezeichneten Essayband "Rätsel und Komplotte“ in jene Zeit, in der die anhaltende Erfolgsgeschichte des Kriminalromans begonnen hat: Ende des 19. Jahrhunderts. Die Kriminalromane, so Luc Boltanskis These, verdanken "ihren Hauptgegenstand und ihre Faszinationskraft“ unter anderem der Art und Weise, "wie sie den Rechtsstaat und seine Widersprüche in Szene setzen.“

Um sich die Zeit zu vergegenwärtigen: Das 19. Jahrhundert ist das Zeitalter der Nationalstaaten, das Zeitalter jener Projekte "einer Gestaltung und Vereinheitlichung der Realität“ bzw. ihrer "Konstruktion für eine Bevölkerung, auf einem Territorium“. Nun ist es aber gerade der Kriminalroman, der in die angeblich sichere Realität ein "Rätsel“ ("énigme“) einbrechen lässt. Auf einmal geschehen Dinge, die sich nicht so einfach erklären lassen, deren Sinn nicht verstanden wird, die nicht in das vorgegebene Raster passen, kurz: Ereignisse, die das, was als Realität verstanden wird - gefestigt und vorhersehbar, festgelegt und stabilisiert und von Institutionen getragen - fraglich machen.

Derartige Rätsel inszeniert nun der Kriminalroman und - vor allem in seiner konservativen Ausprägung, die anfangs weiter verbreitet war als die explizit gesellschaftskritische und alternative Variante, die Boltanski erst in den 1930er-Jahren mit Autoren wie Dashiell Hammett, Raymond Chandler, Jean-Patrick Manchette aufkommen sieht - die Auflösung der Rätsel, die Wiederkehr der Ordnung. Kriminalromanleser kennen dieses Schema: In eine Ordnung bricht ein Ereignis ein und schafft Unordnung, der Detektiv verfolgt als Untersucher das Ereignis bis zu seinen Ursachen zurück - und stellt die Ordnung wieder her.

Ein solches Schema, eine solche Weltsicht ist erst möglich - auch das macht den Zusammenhang des Kriminalromans mit den philosophischen, gesellschaftlichen, politischen Entwicklungen deutlich -, wenn eine klare Trennungslinie zwischen der natürlichen Realität und der "übernatürlichen“ Welt gezogen worden ist. Anders gesagt: Die Errungenschaften der Naturwissenschaften und ihre vielfältigen Untersuchungsmethoden können im Kriminalroman nun intelligent angewandt werden, so mancher Detektiv erscheint dabei als wahrer Gelehrter. Auch die Entwicklungen im Pressewesen, das Entstehen von Öffentlichkeit befördert diese neue Weise, Untersuchungen vorzunehmen. In Frankreich etwa kommt es im 18. Jahrhundert zum Phänomen der "Affären“. Boltanski nennt vor allem Voltaire und dessen Leistung, die offizielle Version der Polizei mit einer anderen Geschichte und eigenen Untersuchungsergebnissen öffentlich anzuzweifeln, ja sogar die Anschuldigungen umzukehren und die Autoritäten in Frage zu stellen, selbst den König.

Boltanski versteht nun dieses auffällige Insistieren auf der Untersuchung als eine äußerlich sichtbare Form, "die eine allgemeinere und tiefere Störung annimmt, deren Gegenstand die Realität selbst ist. Einerseits hat sich die Realität zweifellos niemals als so organisiert, robust und dadurch so vorhersehbar dargestellt wie in den modernen westlichen Gesellschaften. Aber andererseits, und zwar vielleicht aus denselben Gründen, tritt ihre Fragilität oder das, was man dafür hält, in den Vordergrund und scheint eine noch nie dagewesene Verunsicherung hervorzurufen. Ich denke, dass der Kriminalroman diese Verunsicherung inszeniert und dass der Hauptgrund für seinen Erfolg darin zu suchen ist, wie kunstvoll er diese Verunsicherung in Bezug auf die Realität der Realität zum Ausdruck bringt.“

Verdacht betrifft Realität

Der Verdacht weitet sich aus: Er betrifft alle und jeden, auch die Realität. Selbst der eigene Staat ist auf Dauer von dieser Verunsicherung nicht ausgenommen, das wird der Spionageroman zeigen: "Im Kriminalroman offenbart die Enthüllung, die der Detektiv vornimmt, dass sogar beziehungsweise vor allem diejenigen, die die Realität verkörpern sollten und über die nötige Macht verfügten, ihr Halt und Respekt zu verschaffen, Verbrecher sind oder sein können. Im Spionageroman wird der Verdacht so weit ausgeweitet, dass er in erster Linie die Führungsebene erreicht. Der Enthüllungsvorgang bringt an den Tag, dass diese scheinbar rechtmäßigen Inhaber der politischen Macht ‚eigentlich’ - in Wahrheit [en réalité] - mit ihrem Einverständnis oder ohne ihr Wissen nur Marionetten sind, die von anderen Kräften gesteuert werden, deren Macht größer ist, aber im Dunkeln bleibt.“ Zu welchen grauenhaften realpolitischen Folgen die Idee des Komplotts führen kann, die von dem Gedanken lebt, dass es hinter jenen, die vordergründig regieren, eine versteckte Realität gibt, in der "eigentlich“ die Fäden gezogen werden, lässt sich am Beispiel der Fiktion der antisemitischen "Protokolle der Weisen von Zion“ und der Wirklichkeit der nationalsozialistischen, "Endlösung“ genannten, systematischen Ermordung der Juden lesen.

Dass im 20. Jahrhundert nicht nur fremde Mächte, sondern sogar Mitglieder der eigenen Institution, des eigenen Staates das Negative, das Bedrohliche, das Gefährliche im Spionageroman verkörpern können, verstärkt die Beunruhigung. Boltanskis These, dass der Staat als Garant und Hauptverantwortlicher für die Realität in der Kriminalliteratur in Szene gesetzt und in Frage gestellt wird, lässt sich daher gerade im Spionageroman, dessen Entstehung Boltanski 20 bis 30 Jahre nach jener des Kriminalromans einsetzt, nachvollziehen. Der Spionageroman erzählt, dass sich die Realität den Versuchen des Staates entzieht, sie glaubhaft zu stabilisieren. Das bewirkt Verunsicherung und Spannung bei der Lektüre, selbst wenn am Ende einer Erzählung dann doch der Staat die Oberhand zurückgewinnen kann - zumindest vorläufig. Die Spionageromane schaffen Situationen, "in denen der Anspruch des Staates, die Realität in den Griff zu bekommen, für einen Moment ins Leere zu laufen scheint“. Der Boden der Realität, die Verlässlichkeit des Staates wird einem lesend unter den Füßen weggezogen.

Rätsel und Komplotte

Kriminalliteratur, Paranoia, moderne Gesellschaft. Von Luc Boltanski. Aus dem Französischen von Christine Pries. Suhrkamp 2013. 514 Seiten, gebunden, e 40,10

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