Kritik der reinen LEIDENSCHAFT

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Der kühlen Vernunft gilt die Hitze der Leidenschaft seit je als verdächtig. Doch gleichzeitig gehören zum Leben auch Intensität und Unbändigkeit.

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Der kühlen Vernunft gilt die Hitze der Leidenschaft seit je als verdächtig. Doch gleichzeitig gehören zum Leben auch Intensität und Unbändigkeit.

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Worte an historischen Wendepunkten wollen wohlüberlegt sein. David Camerons Rede am Morgen des Brexit-Votums war entsprechend von der Überraschung der Nacht gezeichnet, aber rhetorisch durchdacht. Sie kam nicht ohne die Versicherung aus, dass er persönlich leidenschaftlich für ein "Remain" gekämpft habe. Die Rhetorik der Leidenschaft ist auch von anderen Niederlagen bekannt, etwa dem Ausscheiden des Nationalteams bei der EM. Gibt es also eine verschwiegene Verwandtschaft zwischen Leidenschaft und Scheitern? Keineswegs: Cameron bescheinigte auch den Siegern der Nacht anerkennend eine leidenschaftliche Kampagne; und nach gedrehten Spielen schreiben Sportreporter bekanntlich ebenfalls gerne davon: durch Leidenschaft zurück ins Spiel.

Erhellen zu wollen, wie Leidenschaft zum argumentativen Atout, zu einem anerkennungswürdigen, ja erstrebenswerten Zustand, zum Signalwort intensiven Lebens wurde, heißt die Gegenwarten verstehen zu wollen, in denen wir leben: die etablierten Ordnungen ihrer Diskurse, die herrschenden Techniken des Selbst, politische Praktiken und Legitimationsmuster. Methodisch ist ein solches Ansinnen keine einfache Sache - und insofern in essayistischer Annäherung am besten aufgehoben.

"Krebsschäden für die praktische Vernunft"

Tatsächlich ist das, was in der inflationären und affirmativen Verwendung des Begriffs in der Gegenwart so selbstverständlich erscheint, ideengeschichtlich unselbstverständlich. Lege artis empfiehlt sich in solch komplexen Fällen die Gabe eines Kontrastmittels, konkret etwa Kant. Dieser nämlich hätte mit einer langen, leidenschaftskritischen Tradition vor ihm den skizzierten affirmativen Begriffsgebrauch nur reserviert zur Kenntnis genommen. "Leidenschaften sind ohne Ausnahme böse", schreibt er in der Anthropologie in praktischer Absicht: "Leidenschaften sind Krebsschäden für die reine praktische Vernunft." Vernunft arbeitet bekanntlich nur in kühlen Räumen gut, nicht in der Hitze der Leidenschaft. Wer ihr nachgibt oder sie gar sucht, riskiert seine Mündigkeit: Einmal entbrannt, stößt sie die Vernunft vom Thron und unterläuft das Projekt der Emanzipation.

Entfremdung von der (Lebens-)Welt

Warum nun hat sich die Einschätzung der Leidenschaft in den letzten Jahrhunderten auf diese Weise verschoben? Es gehört zur Aufklärung der Aufklärung über sich selbst, Urteile wie jene Kants in ihren geistesgeschichtlichen Aprioris nachzuzeichnen und zu reflektieren, auf welche Weise Resonanzräume dafür kollabieren. Ein Schlüssel dafür scheint die Interpretation von Leidenschaft als Sinn-und Glückserfahrung sui generis zu sein: Leidenschaft ist -von Gehalt und Objekt abgelöst -ein Erfahrungsmodus. Gleich ob man leidenschaftlich liebt, hasst, sammelt, fotografiert, reist -es ist der Modus als solcher, der intensives Leben indiziert. Dies legt eine Spur: Während Kant das transzendentale Subjekt hat, geraten nach ihm geschichtlich, gesellschaftlich, psychisch etc. vermittelte Subjektivierungsprozesse in den Fokus. Heuristisch wird u. a. die Erfahrung des Individuums leitend, in schwer bestimmbarer Weise nicht mehr in seiner (Lebens-)Welt zu Hause zu sein. Marx analysiert das Phänomen Entfremdung, Schopenhauer räsoniert über den Ennui, Freud deckt das Unbehagen an der Kultur auf -in sich hochdifferenzierte Erfahrungen, aber familienähnlich: Vorhandene Welt und eigene Sinnbedürfnisse klaffen eigentümlich auseinander. Die Hausse der Leidenschaft ist vielleicht daraus verständlich: Wo das stahlharte Gehäuse fordistischer Lebensverhältnisse zum Lustaufschub diszipliniert, steht Leidenschaft für unbändiges Leben, entfesselte Lust, für Eigenes und Eigentliches gegen Fremdbestimmung. Leidenschaft gerät vom malum zum bonum, weil in ihr gewissermaßen der Funke überspringt oder sich, wie man im Anschluss an Hartmut Rosa formulieren mag, Resonanz ereignet. Man ist versucht zu sagen: als blitzte darin zumindest der Form nach ein Moment richtigen Lebens im falschen auf.

Nicht nur Kant wäre hier abermals skeptisch: Die genealogisch angereicherte Phänomenologie kann Leidenschaft normativ nicht akkurat fräsen. Um die Problemlage zu verdeutlichen, legt sich die Analogie mit Sekundärtugenden nahe. Sekundärtugenden wie etwa Fleiß, Pünktlichkeit, Pflichtbewusstsein helfen, das Dasein gerade in sozialer Hinsicht zu bewältigen. Wer die wilde These liebt, könnte Leidenschaft als in den Innenraum des Subjekts verschobene Sekundärtugend begreifen: Wie Höflichkeit (hövescheit) eine höfisch vormoderne und Disziplin eine moderne Sekundärtugend ist, wäre Leidenschaft besonders für eine reflexive Moderne attraktiv -eine Moderne, die auf den Trümmern der von ihr selbst betriebenen Weltgeschichte vor der Frage steht, ob und wie zumindest die eigene fragile Subjektivität unter diesen Bedingungen gelingen kann. Leidenschaft wäre hier Antwort im oben skizzierten Sinn: keine theoretische, sondern eben intensive Erfahrung von Leben und darin seine Affirmation. "Lebe Deine Leidenschaft!" ist der passende Imperativ, die Werbung nutzt das Motiv exzessiv. Gerade die Analogie macht deutlich, wo das Unbehagen nistet: Sekundärtugenden sind lebensführungssignifikant, aber moralisch vollständig blind -auch SS-Männer waren bekanntlich charmant, pünktlich oder eben leidenschaftlich. Es ist der Rückzug auf die reine Form, die die Rückfrage motiviert: Ist solche Erfahrung von Sinn und Leben, die kriteriell völlig unterbestimmt ist, nicht von vornherein desavouiert?

Die Nüchternheit des Glaubens

Auch der Glaube steht, was Leidenschaften betrifft, vor und in der skizzierten Ambivalenz. Daran ist gerade im Blick auf manche Selbstdeutungen des zeitgenössischen Christentums zu erinnern, die Leidenschaft als nachvolkskirchlichen Modus des Christseins lesen, frei nach Augustinus: Wer andere entzünden will, muss selber brennen. Fehlende Leidenschaft ist in dieser Lesart ein Symptom mangelnder religiöser Vitalität, mithin von Glaubensschwäche. So verständlich die Forderung ist, auch sie laboriert an den skizzierten Ambivalenzen des Phänomens; zudem wird ein anderes Problem deutlich: die potentielle Desavouierung jener, die den honeymoon bereits hinter sich haben, die müde, beladen, vielleicht sogar ausgebrannt sind. Im Blick auf die Sehnsucht nach einem Glauben, in dem man bruchlos zu Hause ist, gleichsam völlig aufgeht -denn dafür steht die Chiffre Leidenschaft: bruchlose Identifikation qua affektiver Ergriffenheit -ist zu erinnern, dass bereits das Neue Testament nüchterner klingt: Nichts ist anrüchig an einem Satz wie "Ich glaube; hilf meinem Unglauben!"(Mk 9,24). Bei Lukas deutet Jesus selbst eine Kritik religiöser Leidenschaft an, wenn er ermahnt, das Nachfolgeprojekt realistisch "durchzurechnen" (Lk 14,25-35).

Kippt am Ende die Kritik der Leidenschaft, sei sie religiös, sei sie säkular vorgetragen, in asketische Forderungen? Mitnichten. Ambivalenz wird man kaum durch Verzicht Herr, sondern indem man konsequent die Unterscheidung der Geister fordert und praktiziert. Daran ist zu erinnern: mal nüchtern, mal leidenschaftlich.

Der Autor ist Obmann der Salzburger Hochschulwochen und Assistenzprofessor für Fundamentaltheologie am Fachbereich Systematische Theologie der Universität Salzburg

Salzburger Hochschulwochen 2016 zum Thema "Leidenschaften" 1. bis 7. August www.salzburgerhochschul wochen.at

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