Kritik statt Konsensdiktat

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Verteidigung der journalistischen Literaturkritik gegen ihre Verächter - trotz allem. Auch aus Anlass der "Tage der deutschsprachigen Literatur" in Klagenfurt. Eine Replik

Das in dieser Zeitung vor 14 Tagen erschienene Dossier "Ende der Kritik?" hat es einmal mehr bestätigt: Um das Ansehen der journalistischen Literaturkritik ist es nicht gut bestellt. Wieder einmal, könnte man hinzufügen. Und man könnte es sich leicht machen und dagegen halten: War das nicht immer so? Bereits seit ihren Anfängen gehört es geradezu zu den Charakteristika der Kritik, dass ihre Verächter stets in der Überzahl waren. Marcel Reich-Ranicki hat Angriffe auf sich und die Zunft immer wieder in dieser Weise pariert und jede inhaltliche Kritik an der Kritik damit bereits im Vorfeld zurückgewiesen.

Diese Argumentation lässt sich noch dadurch stützen, dass auch dies zu den die Kritik seit jeher bestimmenden Merkmalen gehört: Dass das Krisenhafte ihr vielmehr geradezu wesentlich ist. Diese so verstandene Krise der Kritik wäre dann auch Ausdruck und Zeichen gerade ihrer Lebendigkeit? In seinem Beitrag "Literaturkritik" im "Fischer Lexikon Literatur" erinnert Peter Gebhardt an die etymologische Verwandtschaft von 'Kritik' und 'Krise' und ergänzt: "Genetisch ist Kritik - betrachtet man ihre Ursprungsgeschichte im 18. Jahrhundert - ein Produkt der Krise. Aber auch umgekehrt gilt, dass sie - die Kritik - Krisen hervorbringt. Kritisieren heißt auch, etwas in eine Krise versetzen."

Aber auch wenn man diese Einwendungen mit bedenkt, sie bleiben selbstverständlich gänzlich im Allgemeinen und weichen der beklagten gegenwärtigen literaturkritischen Praxis aus.

Vielfalt der Kritik

Wie also stellt sich die Kritik heute und in der Wirklichkeit dar? Was wird beklagt und wie berechtigt sind die Vorwürfe, die gegen sie erhoben werden? Und vor allem: Wovon überhaupt ist die Rede?

Die eingangs verwendete Bezeichnung "journalistische Literaturkritik" ist ja alles andere als eindeutig. Zum Einen, weil sie in aller Regel nur die Buchkritik meint, also das schon im 18. Jahrhundert als bedenklich empfundene Rezensentenwesen. Und zum Zweiten, weil sie das Medium außer Acht lässt, vermittels dessen die jeweilige Kritik in die Öffentlichkeit transportiert wird. Bereits derarti-ge notwendige Differenzierungen aber müssen jede verallgemeinernde Einschätzung der Leistung gegenwärtiger Literaturkritik als fragwürdig erscheinen lassen: Einmal, weil sie die Vielfalt der literaturkritischen Formen - von der Kurzkritik, wie sie in der Regionalzeitung oder auch im Lifestyle Magazin begegnet, über die klassische, argumentative Buchbesprechung der größeren überregionalen Tages- und Wochenzeitungen, die es ja nach wie vor gibt, bis hin zum literaturkritischen Essay in den (Gott sei Dank) immer noch zahlreichen und zum Teil höchst anspruchsvollen Literatur- und Kulturzeitschriften - nicht berücksichtigt. Dann aber auch, weil sie die zunehmende Diversifizierung der Medienlandschaft, insbesondere im Bereich der elektronischen Medien und der immer zahlreicheren Internetforen, deren Vermittlungsfunktion auch im Bereich der Literaturkritik keineswegs nur negativ zu beurteilen ist, übersieht, - als Ausdruck der unterschiedlichsten Interessen auf Seiten der Konsumenten, als Antwort auf eine sich ständig weiter ausdifferenzierende Öffentlichkeit.

Interesse an Kritik steigt

Festzuhalten ist jedenfalls: Das Angebot an Literaturkritik im gesamten deutschen Sprachraum ist, nicht zuletzt wegen der besonderen Kulturhoheit der deutschen Bundesländer und des sich weitgehend daraus erklärenden ungewöhnlich breiten Medienangebots, in Europa wahrscheinlich ohne Vergleich. Rein quantitativ betrachtet ist die Literaturkritik jedenfalls weit davon entfernt, eine aussterbende Gattung zu sein.

Aber auch das Interesse an ihr, oder genauer gesagt: das Interesse an einem öffentlichen Gespräch über Literatur scheint es nach wie vor zu geben. Das belegen etwa jüngere Zeitschriften-Gründungen wie Literaturen, herausgegeben von Sigrid Löffler, oder die neue österreichische "Zeitung für Literatur" Volltext, die wachsende Zahl literarischer Talkshows in der Nachfolge des Literarischen Quartetts, beispielsweise Elke Heidenreichs überaus erfolgreiche Fernsehsendung Lesen! oder nicht zuletzt die "Tage der deutschsprachigen Literatur", die in diesem Jahr zum 28. Mal in Klagenfurt stattgefunden haben und wieder zur Gänze in 3sat übertragen wurden. Dass es dies alles nur gibt, wenn die Auftragslage und die Einschaltquoten wenigstens halbwegs stimmen, d.h., wenn es zugleich eine entsprechende Nachfrage gibt, wird man nicht bestreiten.

Daraus aber nun zu schließen, alles wäre zum Besten bestellt und zu Klagen gebe es keinen Anlass, stünde gerade einem Liebhaber der Kritik schlecht an. Es wäre eben so falsch wie auch ihre pauschale Totsagung als allzu leichtfertig erscheint.

Kein Zweifel: Von der Aufbruchsstimmung der Literaturkritik in den sechziger und siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts ist, wie immer von Einzelleistungen abgesehen, nur noch wenig wahrzunehmen. Insbesondere wenn man das Gesamt des Angebotenen betrachtet, wird man zugeben müssen, dass viele Rezensenten sich offenbar tatsächlich und zunehmend nur noch der Ware Buch und seiner Verkaufsförderung statt der Literatur verpflichtet fühlen. Gerade in diesem Punkt ist der Mehrzahl der geäußerten kritischen Einwände durchaus zuzustimmen. Wohin man schaut, von wenigen Ausnahmen abgesehen, dominieren isolierte Buchbesprechungen oder nicht selten nur mehr Bestseller- und Bestenlisten die überwiegende Zahl der Kulturseiten unserer Printmedien. Dringend notwendige Zusammenhänge werden kaum mehr herzustellen versucht, wie sich überhaupt der Eindruck verstärkt, dass das traditionelle Feuilleton, von den überregionalen Tages- und Wochenzeitungen abgesehen, sei es ökonomisch bedingt oder mangels einer längst überfälligen Wertedebatte, vielfach zum Kulturmarketing verkommt.

Kritik als Literaturtransfer

Dies alles sind zweifellos ernst zu nehmende Entwicklungen, die gesehen, benannt und diskutiert werden müssen, auch wenn sie nicht in jedem Falle neu sind. Denn auch das war ja wohl schon immer so: Die Tiroler Tageszeitung beispielsweise auf der einen Seite und die Neue Zürcher Zeitung auf der anderen haben sich auch schon vor 30 Jahren weder von ihren Möglichkeiten noch hinsichtlich der Erwartungen ihrer jeweiligen Leserschaft miteinander vergleichen lassen.

Die Vielfalt des literaturkritischen Angebots und das offensichtlich vorhandene, wenn auch sehr unterschiedliche Interesse daran - als Ausdruck einer Demokratisierung auch des Umgangs mit und des Anspruchs an die Erzeugnisse der Literatur - sollte man ernst nehmen und nicht leichtfertig durch Pauschalverurteilungen in Frage stellen, indem man aus intellektueller Überheblichkeit auch die Bemühungen der vielen ernsthaften Schreibenden von Literaturkritik ebenso wie ihre Leser verdächtigt und lächerlich macht.

Im Gegensatz jedenfalls zu vielen das Gegenteil behauptenden Stimmen und vor allem auch in Ermangelung einer Ersatzinstitution ist der Verfasser nach wie vor von der Bedeutung der Literaturkritik als zentraler Schaltstelle im Literaturtransfer überzeugt - gleich welcher Art und trotz aller Mängel. Angesichts eines trotz aller Kassandra-Rufe scheinbar unbegrenzt wachsenden und nicht zuletzt auch deshalb immer schnelllebigeren und damit noch einmal unüberschaubarer gewordenen Marktes ist die Literaturkritik als Selektionsinstanz immer unverzichtbarer, aber zugleich eben auch immer mächtiger geworden. Alle Bemühungen noch so engagierter Verleger haben nur dann eine Chance, erfolgreich zu sein, wenn auch die Kritik auf die Bücher reagiert. Und auch der Buchhandel ist immer weniger bereit und wohl auch nicht in der Lage , eine Literatur im Sortiment zu führen, die von den zuständigen Redaktionen der wichtigen Medien unbeachtet geblieben ist. Zumindest als Voraussetzung dafür, dass anspruchsvollere Literatur auch nur eine Chance hat, den Weg vom Verleger zum Leser zu finden, ist ihre Wahrnehmung durch die journalistische Literaturkritik unabdingbarer denn je geworden.

Verlust der Kriterien

Aus eben diesen Gründen aber scheint ein anderer Kritikpunkt an der gegenwärtigen Literaturkritik gewichtiger zu sein als die zumeist gegen sie erhobenen: der zunehmend zu beobachtende Verlust von Kriterien, die wenigstens die Vergleichbarkeit der Urteilsfindung erlauben würden. Wenn es der Kritik auf Dauer nicht gelingt, differenzierende Maßstäbe deutlich werden zu lassen, besteht längerfristig tatsächlich eine nicht zu unterschätzende Gefahr für die Literatur, aber vermutlich auch für eine Literaturkritik, die diesen Namen noch verdient.

Nur: Dafür wäre die Literaturkritik kaum allein verantwortlich zu machen. Ihr Ansehen und ihre Leistung korrelieren zumeist sehr direkt mit den gesellschaftlichen Verhältnissen, aus denen heraus und auf die sie reagiert. Zeiten des Umbruchs, Zeiten einer noch unentschiedenen politischen, ästhetischen oder ganz allgemein weltanschaulichen Neuorientierung sind dazu geeignet, sie zu befördern. Zeiten eines vermeintlichen oder diktierten Konsenses dagegen lassen sie eher überflüssig erscheinen und führen über einen längeren Zeitraum zu ihrer Marginalisierung.

Der Autor ist Professor am Institut für deutsche Sprache, Literatur und Literaturkritik der Universität Innsbruck und Leiter des "Innsbrucker Zeitungsarchivs".

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