Kritiker und Vordenker der "Leonardo-Welt"

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Er entlarvte die "unbekümmerte Naivität" des westlichen Technikglaubens, beschrieb dessen teils katastrophale Auswirkungen - und suchte einen Fortschritt mit ethischem Maß. Der Philosoph Jürgen Mittelstraß feierte am 11. Oktober seinen 80. Geburtstag.

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Er entlarvte die "unbekümmerte Naivität" des westlichen Technikglaubens, beschrieb dessen teils katastrophale Auswirkungen - und suchte einen Fortschritt mit ethischem Maß. Der Philosoph Jürgen Mittelstraß feierte am 11. Oktober seinen 80. Geburtstag.

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"Wir leben in einer merkwürdigen Welt. Es ist eine Welt, die wir uns angeeignet und die wir zu großen Teilen selbst gemacht haben", konstatierte Jürgen Mittelstraß in seiner Rede über "Das Maß des Fortschritts"(2003) an der Humboldt-Universität in Berlin. "Wohin auch immer wir gehen, der erkennende, konstruierende, bauende, wirtschaftende und verwaltende Verstand war immer schon da -, und es ist eine Welt, die beginnt, sich als angeeignete und hergestellte Welt den Menschen anzueignen." Dieser Ausschnitt der Rede kann als zentrale These der philosophischen Arbeit von Mittelstraß angesehen werden. Er geht von einem komplexen "Verfügungswissen" der wissenschaftlichtechnischen Kulturen aus, das ständig vergrößert wird und in dem sich der Mensch zurechtfinden muss. Als Beispiel nennt Mittelstraß das Internet, das mit einer bisher nie gekannten Optimierung der Informationsund Kommunikationsmöglichkeiten einhergeht. Was jedoch dem Verfügungswissen abgeht, sind Orientierungen, wie man mit der Informationsflut zurechtkommen soll. Was fehlt, ist die von Immanuel Kant gerühmte Urteilskraft, um die alles sprengende Datenmenge überschauen zu können.

Jürgen Mittelstraß zählt zu den führenden Philosophen im deutschsprachigen Raum. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Allgemeine Wissenschaftstheorie, Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte, Sprachphilosophie, Erkenntnis- und Kulturtheorie. Sein Denken kreist um philosophische Orientierungen in einer Welt, die von wissenschaftsgestützten technischen Kulturen dominiert wird. Am 11. Oktober wurde der Philosoph, der die Universitätspolitik in Deutschland und Österreich aktiv mitgestaltet hat, 80 Jahre alt.

Verhängnisvolle Technikentwicklung

Mittelstraß bezeichnet das "Verfügungswissen" als "unbekümmerte Naivität", die eine massive Fehleinschätzung der Wissenschaft und Technik beinhaltet. Mittlerweile habe sich nämlich die Technik - neben den unbestreitbaren Erfolgen, die eine noch nie gekannte Verbesserung der menschlichen Lebensqualität mit sich brachte - selbständig gemacht. Und damit "eine Welt produziert, die beginnt, sich als angeeignete und hergestellte Welt den Menschen anzueignen". Der Mensch habe durch eine unersättliche Suche nach Ressourcen - "rodend, brennend, jagend, Furchen ziehend, Wasser umlenkend, die Erde nach Bodenschätzen durchwühlend, Müll produzierend" - die ursprüngliche Natur verändert und in weiten Teilen sogar verwüstet, ohne die irreversiblen Folgen seines Handelns zu bedenken. Die Kollateralschäden wie etwa Klimawandel, Ozonloch oder andere ökologische Katastrophen sind dabei nicht zu übersehen.

Diese Entwicklung lässt eine Frage aufkommen, die Mittelstraß so formuliert: "In welcher Welt wollen wir leben? Wollen wir in einer Welt leben, in der sich das naturwissenschaftlich-technische Denken immer mehr verselbstständigt - mit all seinen Konsequenzen?" Es ist eine Welt, in der der Homo faber, der produzierende Mensch, die Welt analysiert, erforscht, plant, verwaltet und gestaltet. Die Wissenschaft, die Technik, die Politik und die Wirtschaft hört auf das Kommando des Homo faber und vertraut auf seine Kompetenz, ungeachtet der vielen Fehlentscheidungen und Fehlentwicklungen, für die er verantwortlich ist.

Diese von Experten konstruierte Welt bezeichnet Mittelstraß als "Leonardo-Welt" - nach dem genialen Renaissance-Ingenieur, Wissenschafter, Philosophen und Künstler Leonardo da Vinci. In der "Leonardo-Welt", die allgegenwärtig ist, wo der technologische Wandel immer erfolgreicher in die Lebensformen der Menschen eingreift, begegnet sich das Individuum in seinen Werken. Und wird so zum Bestandteil seines eigenen Werkes. Die Ursprünge dieser verhängnisvollen Entwicklung ortete Mittelstraß zu Beginn der Neuzeit; konkret beim englischen Philosophen Francis Bacon (1561-1626). Bacon verstand seine Philosophie als radikale Innovation, deren Intention im Titelblatt des Buchs "Novum Organum" anschaulich gemacht wurde.

Die "Narretei" der Fortschrittseuphoriker

Die Bildunterschrift formulierte bereits Bacons wissenschaftliches Programm: "Viele werden hinausfahren und das Wissen wird wachsen", liest man dort. Der Motor, der die "Leonardo-Welt" antreibt, ist das Streben nach Fortschritt, der keinen Ruhepunkt kennt und immer mehr will: mehr Forschungsergebnisse, mehr technische Innovationen. Das zeigt sich heute besonders deutlich bei der Gentechnik. Sie versetzt den Menschen in die Lage, die Natur des Menschen zu verändern. Die Forschungen der Gentechnologie eröffnen erstmals die Möglichkeit, nicht nur Einblicke in die Baupläne menschlicher Existenz zu erhalten, sondern den Menschen selbst zu konstruieren. Dieser nimmt nun die Evolution in die eigene Hand und gefällt sich in der Rolle, Gott zu spielen. Neben der Gentechnik sind es vor allem die Exponenten der Robotik und des Transhumanismus, die eine Verbindung von Mensch und Maschine propagieren und hymnisch die Hybridisierung oder gar die Ablösung des Menschen durch Maschinen feiern. Was Mittelstraß veranlasst hat, diese hochgradig aktuellen Forschungsrichtungen als "Narretei" zu bezeichnen.

Absage an das "Maschinenstürmen"

Nun ist Mittelstraß keineswegs so naiv, zu hoffen, dass ein radikaler Rückzug aus der technisch-wissenschaftlichen Welt die Lösung des Dilemmas darstellen würde. Die Komplexität technischer Zusammenhänge mache es unmöglich, sich aus den Systemen der "Leonardo-Welt" herauszulösen, wie es radikale Kritiker der Industriegesellschaft befürworten. Laut Mittelstraß wäre dies für die modernen Gesellschaften "lebensgefährlich", denn es bedeute, "den Weg des Maschinenstürmens" zu beschreiten. Die Zukunft der "Leonardo-Welt" ist und bleibt eben die "Leonardo-Welt":"Wir können uns auch einen Ausstieg aus dieser Welt, der einen Ausstieg aus Wissenschaft und Technik bedeuten würde, nicht erlauben", wie Mittelstraß in seinem Vortrag "Das Maß des Fortschritts" anmerkt.

Daher plädiert der Philosoph für "ein Orientierungswissen", welches das auf Nützlichkeit ausgerichtete "Verfügungswissen" der universellen technisch-wissenschaftlichen Maschine eindämme. Die Ausarbeitung eines Orientierungswissens sei ständig im Fluss: Es könne nicht als "gesichertes Wissen" betrachtet werden, dass als allgemein gültiger Kanon das Handeln die Menschen leite. Vielmehr gehe es um Optionen, die im Wissenschaftsbetrieb Tätigen zur Reflexion über Sinn und Zweck ihrer Methoden anzuregen. Angestrebt wird ein Diskurs, der sich um "die Einheit alles Wissenschaftlichen, Technischen und Kulturellen" bemüht. Genau darin bestehe die künftige Rolle der Geisteswissenschaften - in einer total verwalteten Welt alternative Vorschläge für eine human gestaltete Lebenspraxis zu präsentieren. "Die Alternative zu einer 'Leonardo-Welt'", so Mittelstraß, "ist eine Welt, in der sich das Verfügen seiner Grenzen, jedenfalls bezogen auf die individuelle Existenz, bewusst wird und ein vernünftiger Umgang mit diesen Grenzen Teil eines gelingenden Lebens ist".

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