"Das Gleiche produziert: nichts." - © Rainer Messerklinger

Kulturelle Aneignung: "Das Gleiche produziert - nichts"

19451960198020002020

Ob Winnetou oder weiße Dreadlocks: Das Thema "Kulturelle Aneignung" erhitzt die Gemüter. Absurde Verbote und neue Dominanzen können nicht die Lösung sein, aber auch nicht das trotzige Beharren auf der Vorstellung von einer „reinen“ Kultur.

19451960198020002020

Ob Winnetou oder weiße Dreadlocks: Das Thema "Kulturelle Aneignung" erhitzt die Gemüter. Absurde Verbote und neue Dominanzen können nicht die Lösung sein, aber auch nicht das trotzige Beharren auf der Vorstellung von einer „reinen“ Kultur.

Werbung
Werbung
Werbung

Es vergeht kaum eine Woche, in der sich die Empörungen nicht geradezu überschlagen, weil sich jemand unzulässig eine andere Kultur angeeignet habe oder weil sich jemand empört darüber, dass man sich darüber empören kann.

Dass manche dieser Empörungen künstlich hergestellt sind, ließ sich bei der unlängst angefachten Debatte um Winnetou beobachten. Es waren vor allem Medien wie Bild, die von Shitstorms berichteten, die es nachweislich gar nicht gab. Angerichtet war der mediale Empörungsschmaus damit aber schon: Zahlreiche Winnetou-Begeisterte erklärten, nie würden sie sich das Winnetou-Lesen verbieten lassen. Dabei wurde gar nichts verboten. Ravensburger nahm das Begleitbuch zum Film „Der junge Häuptling Winnetou“ vom Markt - niemand hat den Verlag dazu gezwungen, weder die Publikation zu machen, noch sie dann zurückzuziehen. Die Karl-May-Bände sind weiterhin erhältlich und können gelesen werden ohne Unterlass.

Interessante Reaktionen

Augenfällig wurde einmal mehr, wie die Thematik ideologisch genützt wird, um die Behauptung streuen zu können, wir lebten in einer Gesellschaft, in der man nichts mehr sagen darf. Bei aller gerechtfertigten Kritik an so manchen überzogenen Sprachbegehren, die Dominanzen durch neue Dominanzen ersetzen und damit das Gegenteil bewirken von dem, was sie intendieren, zeigt doch ein Blick in die Social Media (Stichwort „Hass im Netz“), dass sehr viel gesagt werden darf, manchmal allzu viel.

Interessant sind auch in diesem jüngsten Fall die Reaktionen. Es sei dahingestellt, ob alle, die sich auf einmal für Winnetou aussprachen, ihre Karl Mays in der Jugend gelesen haben oder ob sie die Filme meinten. Sogar Markus Söder postete auf Twitter: „Winnetou und Old Shatterhand waren Idole ganzer Generationen. Es ist falsch, dass Buchverlage und Sender aus Sorge vor Kritik einzelner Winnetou verbannen. Bei allem Verständnis, nimmt das langsam absurde Züge an.“ (Eine Reaktion des Ministerpräsidenten auf den Umstand, dass Goethes „Faust“ aus den Lehrplänen von Bayerns Gymnasien gestrichen wurde, ist nicht bekannt.)

Fakt ist: Winnetou wurde nicht verbannt, weder aus Verlagen noch aus Sendern. Fakt ist auch: Wer heute auf der idolstiftenden Lektüre seiner Jugend beharrt, tut dies im Jahr 2022. Sind, die da trotzig behaupten, „es war so schön damals“, nicht erwachsen geworden? Hat sich seit ihrer Lektüre als Kinder, als Jugendliche ihr Blick auf die Gesellschaft, auf Machtverhältnisse, auf andere Kulturen und damit auch auf ihre Kindheitsidole nicht verändert? Für Brechts Herrn K. wäre das ein Grund gewesen, zu erbleichen.

Das Thema ausbeuterischer, diskriminierender Aneignung ist ernst. Jens Balzer verweist in seinem soeben erschienenen Büchlein „Ethik der Appropriation“, wie sehr zum Beispiel die Musik der Schwarzen von Weißen übernommen wurde und dann zum ökonomischen Erfolg führte. Man hat von der Aneignung profitiert und blieb dabei womöglich sogar noch Rassist.

Verständnis von Kultur

Aber wie lassen sich solche Formen der Aneignung, wie lässt sich die Gewaltgeschichte des Kolonialismus im Umgang mit Kulturen beenden? Wohl kaum, indem verboten wird, dass Weiße Dreadlocks tragen. Als wären Dreadlocks der Besitz einer bestimmten Kultur und deren Verwendung wäre daher ein Eigentumsdelikt. Wohl kaum, indem verboten wird, dass Weiße die Texte von Schwarzen übersetzen. Denn das hieße, eine ausgrenzende Identitätspolitik durch eine andere zu ersetzen. Die Forderung nach ethnischer Identität wäre ja wiederum ein kolonialistisches, ein totalitäres Prinzip.

Ein Kern des Problems lauert im jeweiligen Verständnis von Kultur. Einerseits ist Kultur immer und überall identitätsstiftend, es ist wohl eine ihrer wichtigsten Funktionen, so etwas wie ein Wir zu konstruieren – daher wird sie auch so leicht zum Kampfplatz für festschreibende, fixierende Diskurse. Dann wird Kultur verstanden als eine klar zu begrenzende Einheit, die es von Einflüssen möglichst rein zu halten gilt.

Andererseits ist Kultur genau das Gegenteil von einem unbehaubarem Stein, der unverändert weitergereicht werden könnte. Gerade Kulturen haben sich aus anderen Kulturen hervorgebracht, sind an den Rändern, so es diese gibt, porös und durchlässig, lassen herein und geben ab. Nicht zufällig verweist das Wort cultura auf das Sorgen und Pflegen von etwas, das dann wächst und weiterwächst, wo aber auch kräftig gegärtnert wird.

„Keine Kultur ist heute isoliert von den anderen“, wusste Édouard Glissant, dessen Bücher zu dieser Thematik sehr zu empfehlen sind und den auch Balzer zitiert. „Es gibt keine reinen Kulturen, das wäre lächerlich. Die Spur des Lebens wird nicht durch das Identische gelegt, sondern durch das Verschiedene. Das Gleiche produziert: nichts. Das beginnt schon mit der Genetik. Zwei gleiche Zellen können nichts Neues produzieren. Und in der Kultur ist das auch so.“

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung