Kunst als Denkmal der Opfer

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Im November wäre Albert Camus 90 Jahre alt geworden. Aus diesem Anlass fand in der Schwabenakademie Irsee eine Tagung über "Camus und die Kunst" statt. Seine Synthese aus antiker Kosmos-Frömmigkeit und aufklärerischer Kunst des Dialogs faszinieren noch immer.

Den Titel "Philosoph" wollte Albert Camus "den Deutschen und ihren zahlreichen Schülern" überlassen, aber als Künstler hat er sich immer verstanden. Die Kunst hat nach Camus nicht Urteile zu fällen, sondern "zu allererst zu verstehen" und ihre einzige Rechtfertigung ist, "nach bestem Können für die zu sprechen, die es nicht vermögen", wie der Bonner Philosoph Heinz Robert Schlette an Camus' Reden zur Nobelpreisverleihung zeigte.

Brigitte Sändig, Autorin der Rowohlt-Monografie über Camus, sprach über die praktische Theaterarbeit Camus' und seinen Versuch, die Tragödie in moderner Gestalt aufleben zu lassen. Viele Zeitgenossen, etwa das absurde Theater, hat Camus freilich nicht zur Kenntnis genommen, und seine eigenen Stücke leiden darunter, dass ihre Personen zu sehr Ideenträger und Sprachrohr des Autors sind.

Wie sehr Camus' Kunstverständnis mit Nietzsche verbunden ist, hat Annemarie Pieper herausgearbeitet: Gegen die "Verächter des Leibes" setzen beide auf den "Triumph des Fleisches", sie lehnen Transzendenz ab und halten an der Ambivalenz der menschlichen Existenz fest. Während Nietzsche aber nur den einsamen Künstler kannte, zielt die Kunst bei Camus auf Liebe und Solidarität.

Camus hat die griechische Antike und ihr Kosmos-Denken aufgenommen und sich gleichzeitig als Aufklärer verstanden. Er hat sich mit Kierkegaard auseinandergesetzt und ist Nietzsche teilweise gefolgt. Und er ist selbst zum Bezugspunkt für andere Autoren geworden - etwa für den ungarischen Literaturnobelpreisträger Imre Kertész und sein Votum für ein bewusstes Glück, das aus seinem neuen Roman "Liquidation" spricht.

Camus, der im politischen Engagement wie in der Theaterarbeit ein dialogischer Mensch war, hat die Dialogform auch in Briefen, Essays und Tagebüchern gepflegt und Romane und Erzählungen dialogisch gestaltet. Dialog war für ihn mehr als eine Technik, und daraus spricht das skeptische Wahrheitsbewusstsein der Aufklärung. Allerdings, so schränkt Horst Wernicke ein, sind es immer nur Männer, die in Camus' Werken in Dialog treten. In den letzten Werken freilich werden Camus' Figuren schweigsamer, und auch ihr Autor ist sich nicht mehr sicher, mit wem seine Literatur einen Dialog führen kann.

Mit den Formen des Schweigens bei Camus hat sich Maurice Weyembergh von der Universität Brüssel auseinandergesetzt. Camus hat das Schweigen seiner nahezu tauben Mutter und das Schweigen-Müssen aus politisch-ökonomischen Gründen selbst erfahren und seine Kunst gegen das Schweigen des Vergessens gesetzt: "Die Pest" ist eine Chronik, ein Denkmal für die Opfer. Camus, der Plotin und Augustinus gelesen hat, kannte aber auch das Schweigen gegenüber dem Sakralen; in seinen Mittelmeer-Essays ist es ein Schweigen vor der Sakralität der Welt.

Camus, Chefredakteur der Résistance-Zeitung Combat und später Kolumnist von L'Express, hat auch den Journalismus mit dem Ernst des Künstlers betrieben und jede Beschädigung der Wahrheit um taktischer Vorteile willen abgelehnt. Dass Camus als einziger namhafter Journalist in Frankreich gegen den Atombombenabwurf auf Hiroshima protestierte, dass er später als Linker gegen die Niederschlagung des DDR-Aufstandes und der ungarischen Revolution Stellung nahm und von einem "Sozialismus der Galgen" sprach, hat der bekannte deutsche Fernsehjournalist Rupert Neudeck eindrucksvoll vorgestellt.

Camus ist ein Künstler von klassischer Einfachheit. Das sichert seinen Werken bis heute enorme Verbreitung. Bei näherem Hinsehen verwickeln sie ihre Leser in Fragen, die nicht nur die Texte, sondern sie selbst betreffen. Das hat auch die Tagung in Irsee spannend gemacht.

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