Kunst des Glücks - Glück der Kunst

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Der deutsche Kunsthistoriker Werner Spies hat die Max-Ernst-Ausstellung in der Wiener Albertina kuratiert. Seine Autobiographie spiegelt die Begegnungen mit den Großen aus Bildender Kunst und Literatur wider.

Ich hatte Glück und mein ganzes Leben hat mich auch zum Glück geführt, zu Menschen geführt, die mich glücklich machten, weil ich mit ihnen zusammen etwas tun konnte. Und das passte auch zum Begriff des Glücks. Mir ist im Grunde alles in den Schoß gefallen.“ So lautet das Fazit der Autobiografie "Mein Glück“ von Werner Spies. Tatsächlich kann der Kunsthistoriker, Journalist und Kunstvermittler auf eine außerordentliche Biografie zurückblicken. Sein Leben widmete er der Vermittlung der avantgardistischen Literatur und Kunst des 20. Jahrhunderts. Er war mit Schriftstellern wie Michel Leiris, Alain Robbe-Grillet, Claude Simon, Michel Butor und Samuel Beckett gut bekannt und organisierte große Ausstellungen von Max Ernst oder Pablo Picasso, die in Paris, London, New York oder auch in Wien stattfanden. Spies war Lehrstuhlinhaber für die Kunst des 20. Jahrhunderts an der Kunstakademie Düsseldorf und Direktor des Musée National d’Art Moderne im Centre Georges Pompidou in Paris.

Die Erinnerungen - so der Untertitel des Buchs - sind keineswegs in einem triumphalen Tonfall gehalten. Im Prolog "Lehre der Unsicherheit“ berichtet Spies "von dem frühen Gefühl, irgendwie nicht dazuzugehören, etwas zu versäumen, ausgeschlossen zu sein“. Sein Lebensgefühl, das er mit Kafka teilt, ist die Erniedrigung, das permanente Gefühl, schuldig zu sein. Diese psychische Disposition ist das Ergebnis einer freudlosen Jugend in der Provinzstadt Rottweil am Neckar, wo er am 1. April 1937 geboren wurde. Nach einem Zwischenspiel in einem katholischen Internat begann er Kunstgeschichte, Philosophie und Romanistik in Wien, Tübingen und Paris zu studieren. Er ließ sich in Paris nieder, wo sein kometenhafter Aufstieg begann.

Stimmungen, Reisen, Reflexionen

Die Autobiografie wird keineswegs in chronologischer Folge erzählt; vielmehr orientiert sich Spies an dem französischen Schriftsteller Michel Leiris, der in seinem vierbändigen Werk "Die Spielregel“ autobiografische Elemente wie Erinnerungen, Stimmungen, Reisen, Begegnungen oder Reflexionen, die oft zeitlich weit auseinander liegen, nach bestimmten Assoziationen anordnete. Durch eine Art Dominoeffekt, der von dem Nouveau-Roman-Autor Alain Robbe-Grillet ausging, lernte Spies innerhalb von kürzester Zeit das Who-is-who der literarischen Avantgarde kennen: von Samuel Beckett, Michel Leiris, Eugène Ionesco über Michel Butor, Henri Michaux bis zu Marguerite Duras und Natalie Sarraute. Dazu kamen noch intensive Begegnungen mit Malern und Bildhauern oder Malereiverweigerern wie Pablo Picasso, Man Ray, Alberto Giacometti oder Marcel Duchamp. In atmosphärisch äußerst dichten Beschreibungen, die durch Komplexität und Eleganz bestechen, gibt Spies dabei einen tiefen Einblick in die künstlerische und literarische Produktivität der jeweils beschriebenen Persönlichkeiten. Das Gefühl der Minderwertigkeit blieb dennoch bestehen, bekennt Spies, "denn neben den Genies, mit denen ich in Paris ständig verkehrte, kam ich mir wie ein Wurm vor“. Erst Max Ernst habe er es zu verdanken, dass er "aus der Schule der Minderwertigkeit entlassen“ worden sei. Für Spies bedeutete die Begegnung mit Max Ernst "eine innige und tiefe Freundschaft mit einem der größten Geister des zwanzigsten Jahrhunderts“. Er bewunderte vor allem die künstlerische Originalität von Max Ernst. Max Ernst berief sich in seinen Bildern und Collagen auf bestehende Informationen und verwandelte sie durch einen gleichsam alchemistischen Prozess, in dem aus bekannten Materialien etwas Unbekanntes entstand. Dieser Prozess orientierte sich an einem Ausspruch des französischen Schriftstellers Lautréamont, der Schönheit als "Begegnung einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch“ definierte. Die Gewissheit, dass Reales existiert, löste sich in den Bildern von Max Ernst auf, die an nicht deutbare Traumbilder erinnern. Im Gegensatz zu Sigmund Freud wollte er den Traum nicht rationalisieren, sondern ihn vielmehr in seiner Anarchie belassen. Die Bilder wurden von Phantasiegestalten belebt: vom Vogelmenschen "Loplop“, vom "Löwen von Belfort“ oder vom "Elefanten von Celebes“.

Ein anderer Künstler, der eine große Rolle im Leben von Spies spielte, war Pablo Picasso, "die Wirbelsäule der Kunst des 20. Jahrhunderts“. Für ihn erstellte Spies das Werkverzeichnis seiner Skulpturen. Im Buch beschreibt Spies den ersten Besuch in der Villa Picassos in Mougins an der Côte d’Azur. Dabei gelingt ihm ein eindringliches Porträt des permanenten Kunstrevolutionärs, der sein Werk in einem atemberaubenden Tempo veränderte, bis es in der beispiellosen Explosion seines Alterswerks endete. Für Spies war eben das Alterswerk, das monomanisch um eine enthemmte Sexualität, das überquellende Fleisch des Menschen, um deformierte Köpfe oder bizarre Körper kreiste, ein Höhepunkt im Schaffen Picassos. Während seines Besuchs wurde Spies klar, welches Motiv den letzten, exzessiven Schaffensrausch Picassos bestimmte: "Malen, Zeichnen waren im letzten Jahrzehnt für ihn mehr und mehr zum Trick geworden, die Sanduhr so zu stellen, dass die Körnchen einzeln in die verlorene Zeit hinabfielen.“

Besonders beeindruckend war für Spies die Begegnung mit Samuel Beckett, den er dazu animierte, Hörspiele wie "Cascando“ oder "Words und Music“ für den Süddeutschen Rundfunk zu schreiben. Den Inhalt schildert Spies so: "Beide Hörspiele spielen mit dem Absturz von Dialogen und Geräuschen, es geht um den Übergang vom Sehen zum Hören.“ Oder, wie es Beckett formuliert: "Ganz still, Kopf in der Hand lauernd auf einen Klang.“ Diese Hörspiele sind für Spies Dokumente der Radikalisierung Becketts, die in einem allmählichen Verstummen bestand.

Ein volles Orchester

Später kam noch die Zusammenarbeit mit dem Stuttgarter Fernsehen hinzu, das mit dem Einpersonenstück "He Joe“ begann und auf das noch sieben weitere "crazy inventions“, wie Beckett sie nannte, folgten. Er stand selbst hinter der Kamera, und es war für Spies spannend, Becketts Inszenierungen zu beobachten: "Beckett drang bei seinen Inszenierungen zentimetergenau in den Raum ein. Er wollte zuerst das Plateau vermessen, auf dem das Stück spielte.“ Die enge Beziehung zu Beckett bestand bis zu seinem Tod; kurz davor überreichte Beckett Spies noch den Mikrotext "Soubresautes - Zusammenzucken“, in dem der Reduktionismus Becketts, der sein Leben bestimmte, ein letztes Mal thematisiert wird. Es ist gleichsam die Beschreibung von Becketts allmählichem Absterben, "der Hinweis auf ein verschwindendes Dasein, das sich nur deshalb erlebt, weil es sich in einem verlöschenden Licht mit seinen Sinnen selbst sieht“.

Die Begegnungen und Freundschaften mit Max Ernst, Pablo Picasso und Samuel Beckett sind die Höhepunkte eines erfüllten Lebens, das Spies so zusammenfasste: "All die Begegnungen mit Künstlern und Schriftstellern fanden sich zu einem vollen Orchester zusammen, in dem so gut wie kein Instrument fehlte.“

Buch

Werner Spies: Mein Glück. Erinnerungen. Hanser 2012, 606 S., geb., e 19,99

Ausstellung

Max Ernst Retrospektive, kuratiert von Werner Spies und Julia Drost, Albertina, bis 5. Mai

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