Kunst im Fluss

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Mit präzisem, vielfältigem Blick reflektiert Joachim Römer seine Umgebung und entwirft kunstvolle Schlaglichter auf die Schönheit und Poesie des Alltags.

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Mit präzisem, vielfältigem Blick reflektiert Joachim Römer seine Umgebung und entwirft kunstvolle Schlaglichter auf die Schönheit und Poesie des Alltags.

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Irgendwann Ende der 90er", erzählt Joachim Römer, als er sich vom Aufbau seiner Ausstellung "1000 und 1 Flaschenpost" im Museum am Strom in Bingen am Rhein erholt, "hab ich beim Sammeln von Plastikmüll die erste Flasche gefunden." Er fand eine zweite und dritte, und als es an einem einzigen Tag 20 waren, beschloss er, "jetzt mach da was damit und dann hab ich das mal mehr oder weniger systematisch gemacht."

Jede einzelne Flasche hat Römer geleert und gereinigt, und bevor er wieder den Inhalt in die Flasche gab, protokollierte er ihn. Er entwarf einen eigenen Sortierungscode: "xx/xx-00 = monat / jahr /anzahl der gefundenen flaschen," den er ab der 28. Flasche - das war 1999 -, die er fand, anwendete. Er vermerkt auch akribisch den jeweiligen Fundort. Seit er "das ernsthaft macht mit den Flaschen", erzählt Joachim Römer, "geh ich mindestens drei Mal die Woche oft an denselben Stellen gucken, hauptsächlich im Stadtgebiet Köln, manchmal weiter im Süden, bis ungefähr Königswinter und in den Norden bis Kaiserswerth, insgesamt rund 100 Kilometer."

Obsession und Zwischenräume

Wieviel so ein langjähriges Kunstwerk abverlangt, lässt der Zwischenraum erahnen, den er im Katalog der Ausstellung vermerkt: "so obsessiv ein künstlerisches sammelwerk auch ist, erlahmt manchmal die energie. zwischenzeitlich wollte ich eigentlich keine flaschenposten mehr finden bzw. sie nicht mehr mitnehmen. ich konnte dann aber dem zauber, dem geheimnis, die dem medium flaschenpost innewohnen, nicht widerstehen. zu hause trat ich in eine art streik. klebte an die meisten flaschen noch zettel mit fundort und -monat, lagerte sie aber ungeöffnet, ungelesen und undokumentiert in einem karton ein." Als Joachim Römer mir vor einigen Jahren zum ersten Mal von seinem Flaschenpostsammeln erzählte, rund 800 Flaschen hatte er damals, meinte er: "Wenn ich tausend habe, will ich sie herzeigen."

Römer fiel auf, wie schön die Flaschen an sich sind, die Plastikflaschen sind oft verbeult, an den Glasflaschen sieht man die Schleifspuren vom Sand. Und: eine Flaschenpost muss nicht unbedingt eine Flasche sein, sondern Gegenstände "die mit aussagen schriftlicher oder anderer art bewusst dem fluss übergeben werden." Außer Flaschen können das "kleine getrocknete kürbisse, filmdosen, gefrierbeutel, tictac-behälter" sein oder gelbe Quietschenten, die mit einer schriftlichen Botschaft versehen sind. "Wie ich das installiere ist es im Grunde eine riesige begehbare Skulptur," erklärt der Künstler. Er hat runde Regale gebaut, jede Flasche hat ein eigenes Fach, die einzelnen Regalfächer sind von hinten beleuchtet, der skulpturale Charakter wird so noch verstärkt. "die reihe der flaschen ergeben, wie die der texte, in ihrer verschiedenheit und der abfolge ihres findens geordnet einen wellenförmigen fluss. auf und ab. ansteigend und abebbend. klar und durchsichtig. verschlossen und kaum erkennbar." Da passiert aber noch mehr, so Römer in einem 140 Seiten starken Begleitheft, durch die Flaschenbotschaften kann man tief in den Fundus der Alltagspoesie graben.

"piraten- und schatzgeschichten, kindergeburtstage, taufen, hochzeiten. beschimpfungen und brieffreundschaftssuchen. sexualisierte angebote - zwiespältigeindeutig. abschiede. lebenswünsche. gedenken an verstorbene. gebete. gedichte. traktate religiöser eiferer. hass und wut. partylauniges und prüfungsfeiern. fotos und ansichtskarten. in stöckchen geritztes. übergabe schwerer emotionaler, existenzieller sorgen und nöte an den strom." - All das zusammen gibt das einen ganz eigenen Blick auf die Welt. Dieses Kunstwerk hat Joachim Römer sehr verändert, bei den Spaziergängen am Rhein fand er Ruhe, Konzentration und Ideen für künstlerische Arbeiten - aber auch Lebensmut und glückliche Momente in düsteren Zeiten. "am saum zwischen wasser und land. sich veränderndes niemandsland. ufergehen. suchendes nicht-finden, findendes nicht-suchen. als künstlerischer prozess. an dessen weg, an einem unbestimmbar-bestimmten punkt schlug quantität in qualität um. die schiere menge verdichtete sich zu einem buch wie zu einer skulptur der alltagspoesie." Durch dieses nach und nach entstandene "Buch der Poesie des Lebens" fühlte sich Joachim Römer, der am Künstler-Sein schätzt, staunen zu dürfen wie ein Kind, reich beschenkt.

Römer bearbeitet gerne Vorhandenes. Eine seiner (bislang nie ausgestellten) "work in progress", sind mehr als tausend Fotos von Skulpturen, die er an den Küsten Griechenlands, Siziliens und Schottland spontan und in kurzer Zeit aus Strandgut schuf und vor Ort liegen ließ. 2001 zeigte er im Stadtmuseum Köln seine Rheinschwemmgutfiguren, Miniaturfiguren, die er fast ausschließlich aus Treibgut aus dem Rhein herstellt. Da entstehen fantastische Gebilde und Wesen: ein "männerbrustrückentannennadelstempel" oder ein "tigerkäfer".

"ans eingemachte"

Die Poesie des Alltags war auch Thema seiner Arbeit "ans eingemachte", die er 2004 im Rahmen von "KunstRoute Kalk" des Stadtviertels Kalk von Köln kreierte - einem ehemaligen Industrieviertel, wo Römer schon lange wohnt. Per Annonce sucht er alte Ein-Liter-Liter Einmachgläser und baute ein Regal im öffentlichen Raum, wo er diese Gläser aufstellte. Er fragte Passanten, wo es bei ihnen ums "eingemachte" geht und bat sie, die Einmachgläser entsprechend zu füllen. Auch hier fing er die Vielfalt des Lebens ein: alte Socken, getrocknete Blumen, Fotos, Topflappen, Wollknäuel, Bucheckern.

Joachim Römer ist am Rande des Ruhrgebietes geboren, in Hagen. In Köln studierte er drei Jahre lang an der Fachhochschule für Kunst und Design - freie Grafik, Holzschnitt, Linolschnitt. Er beendete das Studium nicht, andere Dinge waren für eine Weile wichtiger als Kunst. Irgendwann gewann die Kunst wieder Oberhand. Er entschied jedoch, dass er nur dann frei sein kann, wenn er sich nicht selbst reproduzieren muss, abhängig von Märkten ist. Also verdient er seinen Lebensunterhalt mit anderen Jobs, "angewandter Broterwerb" nennt er das, vor allem ist er als Grafiker tätig - hier kann er einen der roten Fäden seiner künstlerischen Arbeit gut verwerten: (Foto-)Collagen. "Es gibt welche, die das genau andersrum sehen und sich erst frei fühlen, wenn sie davon leben können." Für ihn wäre das nichts, "ich selber kann mich nicht gut vermarkten, will das auch nicht", und er ist froh, Ausstellungen wie die in Bingen machen zu können, wo etwas Geld übrig bleibt und er in Ruhe seine Arbeit machen kann.

Mit einer kunsthistorischen Brille könnte man Joachim Römers Arbeiten am ehesten als "Land Art" bezeichnen, dabei wird die Umwelt als formbares und gestaltbares Element gesehen. Er geht mit wachem Blick durch die Welt, lässt sich ein auf nähere und weitere Umgebung und scheint durchdrungen von tiefem Respekt für die Menschen und Dinge, die er auf seinen Streifzügen aufspürt. In rund einem Drittel der Flaschen waren Adressen vermerkt, an alle ging eine Einladung zur Ausstellung nach Bingen, nicht wenige kamen tatsächlich zur Eröffnung - "1001 Flaschenpost" ist dort bis 1. November zu sehen. Nach Bingen ziehen die Flaschen rheinaufwärts nach Duisburg, in das Museum der Deutschen Binnenschifffahrt. In Österreich sind die Fundflaschen eines Monats im Daniel Spoerri Atelierhaus in Hadersdorf am Kamp zu sehen, als Teil einer Ausstellung über das Sammeln, "Lieben und Haben - Liebhaben. Liebhaber. Sammler."

Lieben und Haben - Liebhaben.Liebhaber.Sammler

bis 1.11., Museum Spoerri

Hadersdorf am Kamp, www.spoerri.at

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