"Kunst ist das Nervensystem der Gesellschaft"

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Die Furche: Sie sind nicht nur Österreichs bedeutendste Performance- und Medienkünstlerin, sondern auch eine Wegbereiterin in Bezug auf Genderfragen. Sind für Sie die Anliegen, die Sie in den 70er Jahren stellten, etwa den männlich besetzten öffentlichen Raum auch als weiblichen zu definieren, heute erfüllt?

VALIE EXPORT: Natürlich sind jetzt mehr Frauen sichtbar, aber die Utopien, die wir hatten, sind keinesfalls eingelöst - weder im sozialen noch im künstlerischen Bereich.

Die Furche: Sie haben einmal in einem Manifest gemeint, "die Geschichte der Frau ist die Geschichte des Mannes". Was wollten Sie damit ausdrücken?

EXPORT: Der männliche Blick hat über Jahrhunderte Kulturen und Zivilisationen geprägt und daher ist die Geschichte der Frau auch die Geschichte des Mannes. Der männliche Blick ist immer noch der "gestaltende Blick"; ob in Politik oder Kultur, es herrscht immer noch die Dominanz des Männlichen vor, auch wenn heute Frauen mehr mitgestalten als früher. Ich wollte auch zeigen, dass nicht eine Sichtweise der Geschichte genügt; es gibt genauso viele Darstellungen wie Identitäten. Gesetzliche oder soziale Regeln sind immer eindimensional, da geht es um ja oder nein - um gut oder böse, sie sind immer binär. Kunst bietet sich hingegen dafür an, ein vielfältiges, vielschichtiges Bild zu geben.

Die Furche: Braucht die heutige Gesellschaft eigentlich noch Kunst?

EXPORT: Die Gesellschaft würde die Kunst immens brauchen - nur akzeptiert sie das nicht. Kunst ist für die Gesellschaft heute leider marginal geworden. Aber ich würde mir wünschen, dass die Politik begreift, dass man die Kunst nicht ausblenden kann, weil eine Gesellschaft sonst in Bezug auf das Denken und die Identität verarmt.

Die Furche: Und worin besteht die gesellschaftspolitische Relevanz von Kunst heute?

EXPORT: Die Kunst hat immer noch eine starke gesellschaftliche Relevanz, auch wenn ich den utopischen Gedanken nicht mehr so formulieren würde wie in den 70er Jahren. Der künstlerische Ausdruck ist deshalb so bedeutend, weil er auch ein kultureller Ausdruck ist und weil er die Geschichte im Zusammenhang der gesellschaftlichen Entwicklung darstellen kann. Kunst sensibilisiert für soziokulturelle Abläufe. Kunst ist das sensible Nervensystem der Gesellschaft, sie ist ein offenes System.

Die Furche: Sie sind künstlerisch nach wie vor sehr aktiv. Welche Projekte beschäftigen Sie derzeit?

EXPORT: Ich plane einen experimentellen Film, wo ich mich nochmals in das analoge Material Film/Zelluloid vertiefen möchte und mich inhaltlich mit dem virtuellen Körper befasse, der dann doch wieder auf dem analogen Material Film zu sehen ist. Der Dialog zwischen Virtualität und Sichtbarkeit ist für mich ungemein spannend.

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