"Kunst ist nicht elitär"

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Straßenkinder und Mozart: Dass das zusammengeht, hat der venezolanische Komponist, Dirigent, Jurist und Ökonom José Antonio Abreu mit seinem "Nationalen Netzwerk der Jugend-und Kinderorchester von Venezuela" bewiesen. Ein Gespräch über die soziale Kraft der Musik.

Die Furche: Maestro Abreu, vor 31 Jahren haben Sie in einer Tiefgarage von Caracas das erste Sinfonieorchester Venezuelas gegründet. Daraus hat sich bis heute eine Bildungsoffensive für 250.000 Kinder in 90 Musikschulen entwickelt. Ein von Ihnen zusammengestelltes Orchester hat zuletzt auch bei Peter Sellars' "New Crowned Hope Festival" in Wien mitgewirkt. Würde das Motto "neu gekrönte Hoffnung" auch für Ihr Projekt passen?

José Antonio Abreu: Neu gekrönte Hoffnung ist ein sehr schöner Titel. Sellars' künstlerische Vorstellungen entsprechen auch voll und ganz unseren sozialen Zielen. So hat sich zwischen uns sehr rasch eine künstlerische und soziale Freundschaft entwickelt.

Die Furche: Ihr soziales Ziel war und ist es, Straßenkindern und Kindern aus sozial schwachen Familien durch Musik eine neue Zukunft zu eröffnen. Mittlerweile sprechen viele vom "Wunder von Caracas". Hätten Sie sich das vor 31 Jahren träumen lassen?

Abreu: Ich habe damals davon geträumt, dass Venezuela nicht nur ein Land ist, in dem Musik eine Kunst für wenige Eliten ist, sondern wo das Spielen eines Instrumentes auch zu einer Verbesserung der sozialen Entwicklung führt. Unser Ziel war und ist der Kampf gegen die Armut. Das wollen wir durch die Aufnahme vieler Kinder und Jugendlicher in die Musikerziehung, in die Orchesterpraxis und in Chöre erreichen. Musik ist für uns ein Instrument zur sozialen Einbeziehung und Integration in die Gemeinschaft.

Die Furche: Wie funktioniert Ihr Bildungsprojekt genau?

Abreu: Wir gehen zum einen natürlich selbst in die Communities. Umgekehrt kommen die Kinder auch zu uns in die Musikzentren, die Nucleos. Wir geben ihnen hier die Möglichkeit, gratis ein Instrument ihrer Wahl zu erlernen und gleich in einem Orchester mitzuspielen. Die Lehrer sehen relativ rasch, welches Potenzial die Kinder haben. Die jungen Musiker starten also relativ jung mit der Instrumentenausbildung - und machen meist sehr rasche Fortschritte. Später als Musiker und Künstler ist die Musik dann der Ausweg, die Armut, aus der sie gekommen sind, zu überwinden.

Die Furche: Ein Beispiel für jemanden, der es "geschafft" hat, ist der Kontrabassist Edison Ruiz ...

Abreu: Richtig. Er stammt aus einem Armenviertel von Caracas und hat schon als Neunjähriger in einem Supermarkt gearbeitet, um das Einkommen seiner Mutter aufzubessern. Es hätte nicht viel gefehlt, dass er in die Kriminalität abgerutscht wäre. Doch eines Tages hat ihm ein Nachbar von unserer Musikschule erzählt, wo er zuerst Bratsche und dann Kontrabass gelernt hat. Mit 17 Jahren wurde er schließlich Mitglied der Berliner Philharmoniker. Nun ist er auch wieder in Caracas, um sein Wissen und Können an Kinder und Jugendliche weiterzugeben.

Die Furche: Mittlerweile ist Venezuela zu einem weltweit bewunderten Land der musikalisch Hochbegabten geworden. Können Sie sagen, was Ihnen wichtiger ist - die Ausbildung von Künstlern oder der soziale Aspekt?

Abreu: Es kommt hier beides zusammen. Die Jugendlichen werden Mitglieder von Orchestern oder Chören, arbeiten als Musiklehrer oder werden Mitglieder von Bands. Die Herausforderung besteht eben darin, Qualität und Quantität miteinander zu verbinden. Wir möchten sehr viele Jugendliche in unser System bringen, damit sie Zugang zu künstlerischer Qualität haben. Und damit die Qualität steigt, arbeiten wir auch ständig an technischen Verbesserungen.

Die Furche: Welchen zum Beispiel?

Abreu: Wir sind etwa gerade dabei, eine Reihe hochmoderner Konservatorien fertigzustellen - das erste wird demnächst in Caracas eröffnet. Dort werden dann ganz neue Lernmethoden verwendet - unter anderem das interaktive Lernen. Dadurch wird es etwa möglich, dass ein Professor vom Wiener Konservatorium direkt via Videokonferenz einen Unterricht in Caracas hält. In unseren Beziehungen mit Österreich geht es also nicht nur um einen Künstleraustausch, sondern auch darum, dass österreichische Musiktechnologie nach Venezuela gebracht wird.

Die Furche: Werden auch Komponisten "exportiert", etwa heuer Mozart?

Abreu: Wir lieben Mozarts Musik längst. Alle venezolanischenen Orchester und Chöre spielen und singen das ganze Jahr über Mozart. Das Mozartjahr wurde in Venezuela fast noch mehr gefeiert als in Österreich.

Die Furche: Venezuela hat dessen ungeachtet viele hartnäckige Probleme: Kriminalität, Drogenhandel, Armut. Inwiefern hat Ihr Projekt nachhaltig etwas verändert?

Abreu: Ich glaube, dass wir die Gesellschaft wesentlich verändert haben. Schließlich haben bisher rund eine Million Kinder und Jugendliche unser Programm durchlaufen. Mittlerweile haben schon doppelt so viele Kinder und Jugendliche Zugang zu Musik wie zum Sport - wobei Sport immer schon sehr wichtig war. Wir merken jedenfalls, dass unter den Jugendlichen die Gewalt zurückgeht und weniger Drogen konsumiert werden. Was die Kinder zu Drogen bringt, ist ja meist die schlechte Nutzung der Freizeit. Deswegen erkennt der Staat unser Projekt auch als Sozialprojekt an und unterstützt es.

Die Furche: Mit welchen Ressourcen?

Abreu: Eine genaue Zahl anzugeben ist schwierig, weil uns sowohl das Sozialministerium als auch Landesregierungen und Gemeinden unterstützen. Aber mit rund 40 Millionen Euro können wir jährlich rechnen. Dazu kommt noch Geld von der Weltbank und der Interamerican Development Bank, die uns als das beste Sozialprojekt Südamerikas qualifiziert hat. Außerdem haben wir unser Projekt schon in sämtliche lateinamerikanische und karibische Staaten "exportiert". Und in Afrika haben wir schon Kontakt zu Südafrika, Namibia, Kenia und Ägypten. Das wird durch die Vereinten Nationen und die UNESCO unterstützt. In Venezuela selbst ist unser Netzwerk jedenfalls schon einer der größten Arbeitgeber. Es gibt kleine Städte, wo die Jugendorchesterbewegung mehr Lehrer beschäftigt als das staatliche Schulwesen.

Die Furche: Inwiefern hat sich das Schulsystem selbst durch Ihre Initiative verändert?

Abreu: Es gibt etwa mehr als 700 neue Grundschulen, so genannte Bolivarianische Schulen, in denen die Hälfte der Ausgaben dem "normalen" Unterricht und die andere Hälfte Sport und Kunst gewidmet sind. In jeder dieser Schulen wird es auch ein Kinder-und Jugendorchester geben.

Die Furche: Haben Sie noch eine Vision, die auf ihre Erfüllung wartet?

Abreu: Ich hätte gerne, dass dieses Netzwerk, das ein Weltnetzwerk werden soll, auch auf andere Künste ausgeweitet wird, etwa den Tanz. Das Wichtigste ist aber immer der Sozialaspekt: Es geht darum, dass Kunstschulen und soziale Netzwerke zusammengeführt werden, damit die Kunst an die Gesellschaft herangetragen wird. Kunst ist eben keine elitäre Angelegenheit - sondern ein Welterbe der Menschheit.

Das Gespräch führte Doris Helmberger.

Zwischen Streetwork und Sinfonien

Wer kann auf die Idee kommen, soziale Arbeit und klassische Musik zusammenzuführen? Wohl am ehesten einer, dem keines der beiden Felder je fremd gewesen ist. José Antonio Abreu verkörpert die Einheit von sozialem Engagement und musikalischer Leidenschaft wie kein anderer. 1939 in Valera in Venezuela geboren, studierte er an der Musikhochschule in Caracas und zugleich Volkswirtschaft und Rechtswissenschaften - Fächer, die er später als Universitätsprofessor auch unterrichtete. Zugleich komponierte er Kammermusik und Klavierwerke, zwei Sinfonien sowie geistliche Chorwerke und gab Konzerte als Cembalist, Organist und Pianist. 1975 gründete er schließlich mit jungen Musikern das "Nationale Sinfonieorchester Simon Bolivar" - mit dem Ziel, elitäre Strukturen im Bereich der Musik aufzubrechen und die Musikausbildung zu einem Grundrecht für alle Kinder des Landes zu machen. Die Idee faszinierte, sodass immer mehr Musikzentren - so genannte "Nucleos" -gegründet wurden, in denen Kinder neben (kostenlosem) individuellem Instrumentalunterricht auch Unterricht in Musiktheorie und Rhythmik erhalten. Für sein Engagement erhielt Abreu 1993 den Internationalen Musikpreis der UNESCO, die ihn drei Jahre später auch zum Botschafter für den Frieden ernannte. 2001 war er einer der Träger des Alternativen Nobelpreises. Vorvergangene Woche wurde ihm schließlich im Wiener Museumsquartier von der interdiziplinären Kulturinitiative GLOBArt der "GLOBArt-Award 2006" verliehen. Im Anschluss an die Verleihung wirkte die von Abreu zusammengestellte "Joven Camerata de Venezuela" an der Aufführung von John Adams' Oper "A Flowering Tree" mit, die im Rahmen von Peter Sellars' "New Crowned Hope"-Festival uraufgeführt wurde.

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