"Kunst und Freiheit kosten"

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Wenn sich am 9. Juli im 1200-Seelen-Dorf Erl im Tiroler Unterland der Vorhang zu den Tiroler Festspielen hebt, ist Gustav Kuhn seiner Utopie nahe. Dem streitbaren Dirigenten geht es darum, mit Inhalten und leidenschaftlichem Engagement dem industriell abhängigen, aufgeblasenen Musikbetrieb eine Vision und ihre Durchführbarkeit entgegenzusetzen.

Die Furche: Was bedeuten Ihnen, dem passionierten Musiker und Systemkritiker, die Tiroler Festspiele Erl im siebten Jahr?

Gustav Kuhn: Dasselbe wie im ersten: Passions- und Missionsspiele. Es ist ja auch wichtig, was wir neben den Opern und Symphoniekonzerten an zeitgenössischer Musik, an Ur- und Erstaufführungen machen, mit Komponisten und Musikern wie Salvatore Sciarrino, Wolfgang Mitterer, Norbert Zehm usw. bis zu Jazzer Dave Taylor.

Die Furche:: Ist Ihr Konzept aufgegangen?

Kuhn: Haargenau. Es hat sich heuer auch beim Osterfestival in Rovereto, das ein Riesenerfolg geworden ist, bestätigt. In Erl können wir originär etwas entwickeln, während vergleichbare Festspiele nur einkaufen. Wir produzieren mit dem eigenen Orchester im eigenen Haus. Andere müssen einen verrückten Musikbetrieb machen, wir nicht.

Die Furche: Wagner-Fans pilgern aus aller Welt pilgern zum "Ring" ins Erler Passionsspielhaus. Ist Erl ein neues Wagner-Zentum?

Kuhn: Nein, wir spielen auch Wagner. Vorstellbar ist alles. Es ist eine kulturpolitische Frage, was Sinn macht.

Die Furche: Das sehen die Politiker nicht ganz so; Sie hatten Probleme mit dem Tiroler Landeshauptmann und als Folge davon eine Finanzprüfung.

Kuhn: Ich dachte, dass man jubeln wird, wenn wir den "Ring" schaffen. Stattdessen schickte man uns den Rechnungshof. Der hat aber nichts gefunden.

Die Furche: Sie stellen sich seit Jahrzehnten gegen die herrschenden Praktiken des Musikbetriebs und zeigen in Erl die Alternative. Sehen Sie sich in ihrer Kritik bestätigt?

Kuhn: Absolut. Ich bin ein Dirigent, der - mit Ausnahmen - dirigiert, wann und wo er will, aber mich interessiert der gängige Musikbetrieb nicht. Es ist alles kommerziell gestützt, die Imagebildung erfolgt durch die Industrie. Eine subventionierte Industrie beachtet die Gesetze des Marktes nicht. Subventionen muss es für die Kultur geben, nicht für kranke Betriebe!

Die Furche: Wählen Sie demnach die Außenseiterschiene?

Kuhn: Ich will die Lebensschiene: Das normale Leben in die Kunst integrieren, damit sie nicht von der Plattenindustrie, sondern von meinen Vorstellungen gelenkt wird. Die Plattenindustrie ist eingebrochen und nimmt jetzt vielfach nur noch live auf - was ich schon lange vorgeschlagen habe.

Die Furche: Sie nehmen sich in Ihrer "Accademia di Montegral" in Lucca, bei Wettbewerben und in ihren Produktionen junger Sänger an und bieten ihnen die Möglichkeit, ernsthaft zu arbeiten und sich zu entwickeln. Wie steht es um den Sängernachwuchs?

Kuhn: Es gibt unglaublich viele Talente. Europäische Sänger sind aber am realen Markt Exoten. Allerdings werden die jungen Sängerinnen und Sänger in zehn Jahren im Musikbetrieb vernichtet. Sie singen ihre erste "Bohème", haben sofort Verträge in große Häuser und springen ohne Proben ins Repertoire. Oder sie treffen auf einen neurotischen Regisseur, der weg ist vom Fenster, wenn ihm keine Neurose mehr einfällt.

Die Furche: Woher kommen die neuen Sänger?

Kuhn: Viele aus dem asiatischen Raum. Kultur und Kraft entsteht zum Beispiel in China. Da geht es weiter. Die Leute bauen auf und arbeiten Tag und Nacht. Im Bertelsmann-Gesangswettbewerb in Gütersloh sind im Finale 50 Sängerinnen und Sänger, die weltweit einsetzbar sind. Den "Ring" könnte ich drei Mal besetzen!

Die Furche: Veränderte Arbeitsbedingungen schlagen Sie auch für die Musiker vor.

Kuhn: Natürlich, denn nach einem Jahr Probezeit bekommen die Leute einen Orchestervertrag auf Lebenszeit. So ein beamteter Posaunist geht im Sommer lieber schwimmen, als ins Erl den "Ring" zu spielen.

Die Furche: Und ihre Lösung?

Kuhn: Freie Verträge. Da halten sie ihre Qualität. Als freie Unternehmer sollen sie bestens verdienen und sich selbst sozial absichern. Da sind sie auch nicht von der Gewerkschaft abhängig. Das bestehende System war um 1900 nötig, jetzt ist es veraltet. Ebenso wie der Konzertbetrieb, der früher in dieser Art notwendig war, sich aber weitergedreht hat. Aber wenn ich das alles sage, krieg ich Prügel.

Die Furche: Für den "Ring des Nibelungen" in Erl wurde ein Orchester aus 120 Musikern und Musikerinnen aus 15 Nationen aufgebaut. Mit Ihren Worten: " Jüdische Geiger aus Russland, Holzbläser aus Italien, Blechbläser wie in Chicago, die Hörner aus Österreich." Nicht zu vergessen die sechs Harfenistinnen. Sie alle bekommen ein Achtel einer normalen Gage und kommen ausnahmslos jedes Jahr wieder. Wie erklären sie sich das?

Kuhn: Fragen Sie die Musiker! Es ist auf keinen Fall die Bezahlung, es ist nicht die gute Behandlung von mir, denn ich bin als Dirigent relativ streng und zielgerichtet, es ist ganz bestimmt nicht die kurze Probenzeit - die ist eher verrückt und zum Teil unzumutbar. Nein, es ist dieser Geist, es ist die große Familie, die da zusammenkommt. Mit dem verrückten Alten vorne am Pult.

Die Furche: Welchen Preis zahlen Sie für Ihre künstlerische Freiheit?

Kuhn: Jeden bis zur Existenzvernichtung. Freiheit kostet, und Kunst kostet. Ich habe mich persönlich hoch verschuldet durch Erl. Wenn ich mich brav verhalten würde, wäre ich bei meinem großen Plattenlabel geblieben. Aber ich bin nicht kompromissbereit. Man kommt nicht ungeschoren davon, wenn man sich mit diesen Leuten ins Bett legt.

Die Furche: Was haben Sie gelernt in Erl und wie wird es weitergehen?

Kuhn: Ich habe gelernt, allein zu kämpfen, mit dem Publikum. Nur du selbst kannst dir helfen. Wir müssen uns entwickeln in eine Richtung, wo wir nicht so subventionsanfällig sind. Wir müssen uns vernetzen und uns um die Vermarktung kümmern.

Die Furche: Was planen Sie für 2005?

Kuhn: Vielleicht noch einmal den "Ring", einmal normal zyklisch und einmal als Marathon in 24 Stunden. Wenn sich allerdings die Finanzen um das Orchester nicht klären, muss ich es vorübergehend reduzieren. Dann gibt es 2005 keinen "Ring" in Erl. 2006 sollen wir mit der Produktion in St. Pölten gastieren.

Das Gespräch führte Ursula Strohal.

Starzirkus verweigert

"Man muss geistig etwas tun, weil die Zeit so dagegen ist", sagt Gustav Kuhn über seine Motivation, allein ein Festival zu tragen und mit hohem Anspruch durchzuziehen. Austragungsort ist das Erler Passionsspielhaus. Zwischen 9. und 31. Juli wird zweimal Richard Wagners "Ring des Nibelungen" aufgeführt, begleitet von einem Konzertprogramm von der großen Symphonik über Kammermusik und Klavierabende bis zum jazzig-folkloristischen Freilichtspektakel.

Kuhn, Schüler von Herbert von Karajan und Bruno Maderna, promovierter Philosoph und Psychologe, stammt aus Salzburg. Früh eroberte er sich die großen internationalen Opernhäuser Konzertsäle und Festivals von Glyndebourne bis Salzburg. Er wurde Chefdirigent der römischen Oper, leitete das Opernhaus von Neapel und die Festspiele von Macerata. Dennoch verweigerte sich Kuhn dem Starzirkus und "Pulthurentum". 1990 gründete er die heute in einem Kloster bei Lucca in der Toscana gelegene Accademia di Montegral, die interdisziplinär junge Künstler ausbildet und begleitet. Opernstars wie Barbara Frittoli, Albert Dohmen und Stefania Bonfadelli sind daraus hervorgegangen.

Heuer gründete Kuhn das Osterfestival im oberitalienischen Rovereto. Er dirigierte in Verona, Mailand, Spanien, Singapur und China, und ist im Herbst an der Pariser Opera Bastille anzutreffen. Kuhn ist u.a. auch künstlerischer Motor des Bertelsmann-Gesangswettwerbs "Neue Stimmen" in Gütersloh.

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