Fastentuch - © Foto: JESUITEN:KUNST

Julian Schutting: Ein Wasserfall, ein Fastentuch

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In der Wiener Jesuitenkirche hängt bis Karsamstag ein auffälliges Fastentuch: ein Wasserfall. Eine literarische Reflexion von Julian Schutting über das Werk von Gabriele Rothemann.

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In der Wiener Jesuitenkirche hängt bis Karsamstag ein auffälliges Fastentuch: ein Wasserfall. Eine literarische Reflexion von Julian Schutting über das Werk von Gabriele Rothemann.

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Bin ich, ein Wasserfall unter vielen, aber nicht mehr der geringste, seit mir eine Überhöhung weit weg von mir widerfahren ist, inmitten der Natur, der ich angehöre, für Menschenaugen eine Veranschaulichung der Wiederkehr des immer Gleichen, einem Friedrich Nietzsche während eines Waldspazierganges aufgestiegen, der ihn vielleicht an einem meiner Brüder vorbeigeleitet hat, wenn ich doch zur Schneeschmelzezeit mit weit mehr Wassermassen als in Sommern zu Tale mich stürze, ja wenn doch im Winter zu mir Aufschauende sich in Nachsicht zu üben haben, daß ich mich da kaum rühre, da mir mein Äußeres, zu einem Überwurf aus Eis erstarrt, das Ansehen eines Toten oder Scheintoten verleiht? dank dem Segen und auch Fluch meiner technischen Reproduzierbarkeit, keineswegs den Werken der Kunst vorbehalten, mag ich in filmischer Wiedergabe zu einer immer gleichen Wiederkehr meiner gefilmten Minuten bewogen oder gezwungen werden, und hätte mich Filmender sich meiner so ernsthaft angenommen, als müßte er für die Nachwelt meine letzten Stunden dokumentieren, weil mein Verschwinden bevorstünde, ob nun durch einen Bombenabwurf oder durch einen Bergsturz. lebensvoll in der Natur vorhanden, die mich hervorgebracht hat, bin ich Wasserfall in den Augen der mich betrach­tenden Wanderer ein immer erst jetzt sich manifestierendes Jetzt – ohne daß die außerhalb dieses meines Jetzt weiterhin vergehende Zeit in diesem Jetzt erstarrt wie im Winter auf Zeit mit mir: zu allen anderen Jahreszeiten erneuert sich ohne Unterbrechung, weil ununterbrochen, mein ‚Jetzt, jetzt!‘, aber so, als wäre vor ihm nie ein anderes, nie ein gleiches Jetzt gewesen. immer ist jetzt erst jetzt, wohl auch dann, wenn kein einziger Mensch, das zu konstatieren, vor mir steht, keiner zu mir aufschaut – oder bestünde auch ich nur als ein Sein im Bewußtsein zumindest eines Lebewesens?

wer mich filmt, könnte mit meiner Wiedergabe mittels Ein- und Ausschaltens meiner Herz-Lungen-Maschine mit mir so willkürlich verfahren wie das Schicksal oder die Götter mit euch menschlichen Kreaturen: Stürze noch dreimal zu Tal! Stehe still und ­erstarre! Rühr dich wieder, wie von mir zu neuem Leben erweckt! Und jetzt sei dir das Leben wieder genommen! Oder nein – ich belaß dich auf dem Bildschirm in Bewegung, bis denen da dämmert, daß sie nicht ein beschauliches Kontinuum deines dich-Ergießens vor Augen haben, sondern nur sich wiederholende fünfzig Sekunden!

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