Hermann Nitsch: Der gemütliche Orgiast
Vom Krieg bis zum Fleischkonsum: Das Gesamtkunstwerk von Hermann Nitsch konfrontiert uns mit der Frage, was wirklich pervers ist. Zum Tod des Mitbegründers des Wiener Aktionismus.
Vom Krieg bis zum Fleischkonsum: Das Gesamtkunstwerk von Hermann Nitsch konfrontiert uns mit der Frage, was wirklich pervers ist. Zum Tod des Mitbegründers des Wiener Aktionismus.
Zwei Panzer: Sie zählten zur „Idealpartitur“ des Orgien-Mysterien-Theaters (OMT), mit dem Hermann Nitsch 1998 sechs Tage und Nächte lang sein Lebenswerk zelebrierte. Ein Militärfahrzeug passt so gar nicht zum beschaulichen Ambiente im Barockschloss Prinzendorf im Weinviertel, wo der österreichische Künstler sein sinnliches Spektakel realisierte – unter anderem mit 10.000 Rosen, 1000 Kilo Trauben und Tomaten, bereits geschlachteten Schweinen und Schafen, drei noch zu schlachtenden Stieren, mit 1000 Liter frischem Blut, zwei Blasmusik-Kapellen, 110 Orchestermusikern, 60 Tragbahren, 15 Holztrögen sowie einem Kilometer Leinen, auf dem die Aktionen ihr Abbild fanden. Wie bereits bei der dreitägigen Aktion 1984 ratterte am Ende des großen „6-tage-spiels“ ein Panzer über das Prinzendorfer Schlossgelände. Das Fahrzeug wurde von den weiß gewandeten, blutverschmierten Teilnehmern mit Blumen beworfen.
Ekstase und Läuterung
Hermann Nitsch war ein gemütlicher Orgiast: Bei seinem „Theater“ sorgte er dafür, dass exzessive und meditative Phasen ausgewogen ineinander übergingen. Dem dramatischen Wühlen in den Gedärmen folgten Besinnlichkeit und Geselligkeit, inspiriert durch naturreinen Wein aus der Region. Musik, Malerei, Duftorgel, Essen und Trinken: Das Orgien-Mysterien-Theater ist ein Gesamtkunstwerk, das mit allen Sinnen begriffen werden will. Wie die griechische Tragödie soll es bei den Zuschauern eine bestimmte Funktion erfüllen, zu einer Art heilsamen Ekstase und psychophysischen Läuterung führen. Der Weg dazu führt über die „Ästhetik des Schreckens“ (K.H. Bohrer), über Ekel und Abscheu, über das zeitweilige Beseitigen von zivilisatorischen Schranken im geschützten Setting. Deshalb ist das Mysterien-Theater durchtränkt mit Blut. Wenn es sich mit der Maische und den Ausdünstungen der Gedärme vermischt, entsteht ein narkotischer Sog, der einem lange in Erinnerung bleibt.
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