Kunstfigur ohne Schmerz

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Ein Norweger auf den Spuren von Patrick Süskinds Parfum.

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Ein Norweger auf den Spuren von Patrick Süskinds Parfum.

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Ein Mensch empfindet keine Schmerzen, die Warnsignale des Körpers sind ihm fremd, tot ist er deswegen nicht. Der junge norwegische Autor Nikolaj Frobenius läßt seinen Helden Latour zur Suche nach dem Zentrum des Schmerzes aufbrechen. Das Fehlende macht den Menschen erst richtig zum Menschen. Damit steht er in der Literatur nicht allein da. Einen gewissen Grenouilles zum Beispiel, ebenfalls im 18. Jahrhundert angesiedelt und mit dem Fehlen jeglicher Körperausdünstung geboren, ließ Patrick Süskind die Wissenschaft der Düfte entdecken.

Die Kunstfigur Latour ist vom Ursprung der Schmerzen besessen. Mit so einer Veranlagung wäre der Weg für verschiedene Karrieren geebnet, die eines Anatomen ist eine davon. Wie schwer ist es aber, ein guter Anatom zu werden - in einer Zeit, welche die Erforschung des menschlichen Körpers mit dem Skalpell noch dem Werk von Zauberern und Verbrechern gleichstellt, in der Anatomie zumindest anrüchig erscheint und das Sezieren nicht via Fernsehen in die sauberen Wohnzimmer geliefert wird. Und wenn obendrein der Autor für seinen Helden noch viel mehr will, philosophische Hintergedanken hegt und dabei ein bißchen mit dem Zeitgeist kokettiert.

Latour wird im kleinen normannischen Städtchen Honfleur zur Zeit Ludwig XV. als Sohn der Wucherin Bou-Bou geboren. Die Mutter ist so häßlich, daß die Menschen "wie geblendet von etwas Schönem stehenblieben und sie bestaunten". Doch Bou-Bou genoß - als Findelkind, welch Fügung des Schicksals - eine gute Ausbildung, verstand sich auf Zahlen und Mathematik und avancierte in kürzester Zeit zu einer begehrten Wucherin. Gemeinsam mit dem Rechtsanwalt Goupil wird sie zu des "Teufels irdischem Pfandleiher". Latour lernt, häßlich wie auch er ist, sehr schnell, schneller als andere Kinder, die Gesetze, nach denen die Welt abläuft, etwa "daß man mit Heuchlerei weiter kam im Leben und alles so eingerichtet war, daß man unerkannt die größte Untat begehen könnte, solange man sie nur sorgfältig und überlegt verrichtete".

Für die Menschen, die ihn nur anstarren und hänseln, hat Latour nicht viel übrig, doch daß sie dereinst für ihn bloß Material sein werden, um seinen Wissensdrang zu befriedigen, wird erst das Schicksal zeigen. Der erste Schritt in diese Richtung ist der Besuch bei einem Tierpräparator. Leopold ist der beste seines Faches und der beste seiner Zeit, er bewahrte auch den ersten Tiger der Normandie für die Nachwelt. Die Arbeit am toten Material bringt Latour die Beruhigung, daß er, das häßlichste Kind ganz Frankreichs, "hinter dem dünnen Schleier der Haut nicht häßlicher war als all die anderen".

Die Kunstfigur hat es nicht leicht, ein guter Anatom zu werden. Dies auch deswegen, weil der Autor dem Leser zuviel zumutet. Damit ist aber nicht das Grausen aufgeschlitzter Leichen gemeint, sondern der Antrieb hinter der Geschichte dieses Latour. Bei den Unterlagen seiner ermordeten Mutter findet er eine Liste mit acht Namen unterschiedlichster Menschen aus Paris, von der Opernsängerin La Boulaye über den Textilfabrikanten Monsieur Jacques bis zu einem ominösen President de Curval. Sie sind für den Jungen schuld am Tod seiner Mutter. Er bricht also nach Paris auf, einer Stadt, die für ihn einem großen aufgeschnittenen Körper gleicht: "Knochen, Gelenkkapseln, Adern, alles sichtbar; die Stadt war ein Frauenkörper und er lief in diesem Körper herum".

Dies könnte fast der Beginn eines Kriminalromans sein, doch eben nur fast. Der Autor will mehr für seinen Helden, drum wird Latour Schüler des Anatomen Rouchefoucault, der beim Sezieren der Gehirne Eigenschaften zu lokalisieren versucht und meint, den Sitz der Liebe zu Angehörigen, des Gedächtnisses, der Sprache, des Farbensinns und der Moral gefunden zu haben. Latour lernt, vergißt jedoch keineswegs seine acht Opfer, bei denen er nicht viele Schnitte benötigt, um ihnen das Wesentliche, das für ihn Interessante, zu entnehmen, der Opernsängerin den Kehlkopf: "Er betrachtete ihn fasziniert und ließ ihn zurück in die Jackentasche gleiten. Er fühlte sich wie ein König."

Latour rächt seine Mutter auf seine Weise, dabei trifft er auch noch auf einen anderen, für den der Schmerz das einzig Menschliche ist: auf Marquis de Sade, der in seinen Schriften und mit Bordellbesuchen der Einsamkeit der inneren Wüste zu entfliehen sucht, der Leere der Gefangenschaft: "Der körperliche Schmerz war der einzige Beweis dafür, daß die Einsamkeit nicht vollkommen war." Der achte der Liste, der "President", ist kein anderer als de Sade, den Latour als Sekretär begleitet, über die Zeitenwende der Revolution von 1789 hinaus bis in die Irrenanstalt von Charenton, wo Latour das erstemal Schmerz empfindet und seine Erinnerungen schreibt.

Sein Geheimnis erfährt aber weder der Direktor der Anstalt noch der Kommissar. "Die Stille ist die einzige Macht, die mir noch bleibt" heißt es am Schluß der Reise, bevor das Nachschweigen des Buches so richtig beginnt. Erst die Stille bündelt die Wege, etwas zuviele Wege, auf denen wir mit dem Autor unterwegs waren, um letztlich doch nur in Ratlosigkeit entlassen zu werden. Ist nun tatsächlich der Schmerz die Seele des Menschen? Täuscht der Autor mehr Fragen vor, als tatsächlich gestellt wurden? Ist es deshalb, daß Frobenius zwar in die engere Wahl für den europäischen Literaturpreis kam, ihn aber doch nicht bekam? Bleiben einfach die Nebenfiguren zu blaß, der Kommissar Ramon und zum Schluß Coulmier, der Leiter der Irrenanstalt?

Auch viele andere queren beiläufig den Weg Latours, aufgebrachte Menschen, die Richtung Bastille unterwegs sind, sie schwingen Fahnen und Äxte und tragen einen Kopf auf einer Stange. Doch kaum jagt dieses Gespenst durch die Straßen, da hat es sich auch schon wieder verflüchtigt. Ein bißchen zu schnell eben alles, ein bißchen zu flüchtig.

Der Anatom Roman von Nikolaj Frobenius Luchterhand Verlag, München 1998 255 Seiten, geb., öS 254,-

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