Werbung
Werbung
Werbung

Der Lyrikpreis Meran wurde am 18. Mai zum sechsten Mal vergeben.

Gedichte, so heißt es, werden immer weniger gelesen. Aber keinesfalls werden deswegen weniger Gedichte geschrieben. Für diejenigen, die Lyrik schreiben, bedeutet es, dass sie immer seltener eine Öffentlichkeit finden, und für Anfänger heißt es, dass es gar nicht so einfach ist, herauszufinden, welche Qualität die eigenen Gedichte denn nun haben, ob an eine Veröffentlichung zu denken ist oder diese Texte nur für denjenigen von Wert sind, der sie geschrieben hat. Für diesen "Test" kommt Literaturzeitschriften und Literaturpreisen eine wichtige Rolle zu. Nur wenige von ihnen sind speziell der Lyrik gewidmet, wie etwa der Leonce und Lena-Preis oder der jedes zweite Jahr vergebene Meraner Lyrikpreis.

Meran, am Schnittpunkt der Sprachen und Kulturen gelegen, von Schnitzler, Kafka oder Benn aufgesucht und für einige Zeit Lebensmittelpunkt von Ezra Pound, ist ein guter Ort für Literatur. Abseits der Metropolen ist hier die Identifikation einer Stadt mit einer sehr spezifischen Kulturinitiative gelungen, was sowohl die Stadt belebt wie der Literatur neue Impulse gibt. Im Ambiente Merans mit seiner gewachsenen Lebenskultur kann die Lyrik ihre Notwendige Balance zwischen Intimität und Öffentlichkeit finden.

1993 hat Alfred Gruber, der langjährige Leiter des "Kreises Südtiroler Autoren", den Lyrikpreis Meran gegründet - wohl auch, um die deutschsprachige Literatur in Südtirol aus ihrem Ghetto zu holen. Gleich der erste Preisträger war ein großer Glücksfall: der deutsche Autor Kurt Drawert, der im selben Jahr auch den Ingeborg-Bachmann-Preis erhielt und dem Meraner Lyrikpreis bis heute als Juror verbunden ist.

Lyrik im Gespräch

Am vergangenen Wochenende war es wieder so weit. Etwa 400 Autorinnen und Autoren aus dem gesamten deutschen Sprachraum hatten ihre Gedichte eingeschickt, eine Vorjury die Auswahl auf 60 eingegrenzt. Damit begann die Arbeit der hochkarätigen Jury von Autoren, Germanisten und Kritikern, die neun Lyrikerinnen und Lyriker zu einer öffentlichen Lesung nach Meran einlud. Die Lesung der Autorinnen und Autoren, auf zwei Tage verteilt, ist das eigentliche Ereignis in Meran, denn hier werden ganz verschiedene Methoden, Gedichte zu schreiben, sichtbar und vergleichbar. Die prominente Autorin Ulla Hahn, eines von sieben Jury-Mitgliedern, sagte im furche-Gespräch: "Ich finde, besonders in diesem Jahr macht sich die Vielfalt sehr gut deutlich: Vom archaischen Gesang, der wirklich an alte Rhapsoden griechischen Ausmaßes erinnert, über die sehr schönen sprachbewussten Spielereien eines Oswald Egger bis zu den lakonischeren, aber auch mehr zeitgenössischen Gedichten sind hier alle Richtungen vertreten, und das finde ich außerordentlich spannend."

Dass die Jury in ihrer Gesamtheit hinter allen Texten steht, unterscheidet die öffentliche Diskussion vom Bachmann-Preis, wo ein Juror "seinen" Autor durchbringen will. Ein gut gestaltetes Textheft enthält alle zur Diskussion stehenden Gedichte; so kann das Publikum (darunter Studierende der Germanistik der Universität Innsbruck, die sich gezielt vorbereitet haben) die Argumente der Jury nachvollziehen und sich bisweilen auch an der Diskussion beteiligen. Für Ulla Hahn ist diese öffentliche Diskussion das Wichtigste in Meran: "Ich glaube, das Spezifikum ist doch, dass die Texte gelesen werden und dann anschließend öffentlich darüber diskutiert wird. Das ist ja auch für einen Juror die wirkliche Herausforderung. Ich hätte diese Jury nie mitgemacht, wenn man nicht vorher die Texte schon zu lesen kriegte, denn man muss sich mit dem Text schon vorher beschäftigt haben." Die behutsame und genaue Argumentation über die Texte, bei der sich die Juroren nicht als Richter, sondern als Anwälte der Lyrik sahen, war von der Überzeugung getragen, die Kurt Drawert gegenüber der furche so formulierte: "Jedes gute Gedicht ist im Grunde nicht mit einem anderen austauschbar und vergleichbar, es ist ein eigener individueller Sprachkörper mit seiner eigenen Gesetzmäßigkeit."

Trotzdem muss auch deutlich von den Schwächen mancher Gedichte die Rede sein: von Pathos, das leer läuft, von alltäglichen, abgenutzten Wörtern und vorhersehbaren Wendungen oder von einer Lakonie ohne Spannung. In der Diskussion wird deutlich, dass es heute sehr verschieden Möglichkeiten gibt, Gedichte zu schreiben, dass auch Juroren ihre persönlichen Vorlieben haben, aber dass man trotzdem nicht nur über Geschmack, sondern sehr wohl über Kriterien sprechen kann. Bisweilen sind hinter den Lesungen und Gesprächen auch die Klänge des Meraner Kurorchesters zu hören, aber das ist eben die ortsspezifische Verbindung von Kur und Kultur. Spezifisch ist auch die Teilnahme von Meraner Schülerinnen und Schülern der letzten Oberstufenklassen, die die Texte der Finalisten des Lyrikpreises gelesen haben und ihre Wertungen mittels Fragebögen einbringen können.

Garten aus Wörtern

Der Jury fiel die Wertung heuer sehr schwer. Der zweite Förderpreis wurde dem Dresdner Uwe Tellkamp für Gedichte zuerkannt, die von bewusstem Pathos getragen sind und in der Tradition der großen Gesänge stehen. Dann ging die Jury einen unvorhergesehenen Weg und legte die Geldbeträge des ersten Förderpreises und des Lyrikpreises zusammen, um den Meraner Lyrikpreis 2002 ex aequo an den aus Südtirol stammenden und in Wien lebenden Oswald Egger und die gebürtige Berlinerin Sylvia Geist zu vergeben. Es standen sich nämlich "zwei gleichrangige, interessante, in sich gelungene Lyrikkonzepte" (Kurt Drawert) gegenüber, die in ihrer Unterschiedlichkeit exemplarisch sind für zwei Stränge in der zeitgenössischen Lyrik: "Sylvia Geist wird ausgezeichnet für ihre genau gebauten Gedichte, die die Fremdheit der Welt ins Bild fassen und es vermögen, ein kurzes Schweben' im Leser zu erzeugen. Oswald Egger wird ausgezeichnet, weil er durch seine Partitur-Gedichte mit einer ungeheuren Fülle an Sprachmaterial arbeitet und uns Lesern ermöglicht, uns auf eine Sprach- und Zeitreise durch eine ge-fundene und er-fundene Enzyklopädie der Botanik (und nicht nur) zu begeben." (Jurybegründung)

Für den aus Lana gebürtigen Oswald Egger war dieser Preis in seiner alten Heimat "eine sehr angenehme Rückführung auf die näheren Umstände, die ja auch zur Prägung eines Menschen dazugehören". Eggers zwölfteiliger Zyklus "Hänggärten" geht von einer im bairischen und alemannischen Raum verbreiteten Begriff des Heimgartens aus, der für den Autor "nicht nur den Ort der Unterredung, sondern auch eine bestimmte Art des Sprechens bezeichnet, je nachdem in welcher Lebensphase es einen trifft: Es kann das Kosen der Liebschaft, es kann die Plauderei, die Unterredung oder das Gespräch über die Gräber hinaus sein. Es ist ein sehr weit gefasster und mit einem großen Herz umschlossener Begriff, was sozusagen darin alles möglich sein kann. Und darin auch dem, was ein Gedicht sein könnte, anverwandt." Sprachexperimentell und gleichzeitig mystisch-suggestiv wird in Eggers Gedichten ein Garten aus Wörtern erschaffen, strukturiert durch Rhythmus und Klangassoziationen.

Gedicht und Musik

Sylvia Geist gelingt es, mit wenigen Mitteln neue, interessante Bilder und Metaphern zu finden; ihre Gedichte sind eine "Regenerationsmaschine von Sprachschlacke" (Kurt Drawert in der Diskussion") und nehmen einen einzelnen Hirschkäfer oder die Zusammenhänge von Körper und Kultur, ja manchmal das Weltall in den Blick, ohne auseinander zu brechen. Für Sylvia Geist, die zunächst für sich selbst Gedichte schrieb und seit zehn Jahren ernsthaft als Autorin arbeitet, ist der Preis "eine riesengroße Überraschung" und "ein Vertrauensvorschuss für die Zukunft". Er hilft ihr, sich einige sorglose Monate lang ganz intensiv auf das Schreiben von Gedichten zu konzentrieren.

Erstmals haben die Meraner Musikwochen einen "Vertonungspreis" gestiftet: Die Preisträger können sich die eigenen Texte von einem zeitgenössischen Komponisten ihrer Wahl vertonen lassen. Die Aufführung dieser Auftragswerke ist für die beiden kommenden Jahre vorgesehen, anlässlich des europaweit bekannten Musikfestivals "Meraner Musikwochen"

Diesmal hatte der Meraner Lyrikpreis auch ein besonders ambitioniertes Rahmenprogramm: Man zeigte die von den Literaturhäusern Wien und München konzipierte Ausstellung "ernst jandl - a komma punkt", das Vienna Art Orchestra spielte in Erinnerung an Ernst Jandl ein Duke Ellington-Konzert, und im Palais Esplanade ist noch die Retrospektive zum 80. Geburtstag von Paul Flora zu sehen. Originell war die Abschlussveranstaltung des Meraner Lyrikpreises: Der renommierte Südtiroler Chor "ars cantandi" machte Texte der teilnehmenden Autorinnen und Autoren zur Grundlage einer abwechslungsreichenMischung aus Musik und Rezitation.

"Lyrik im Gespräch" ist das Motto des Meraner Lyrikpreises. Dieses Gespräch ist nun schon zum sechsten Mal gelungen und weit über Meran hinaus von großer Bedeutung. Es ist ein ernstes, aber kein akademisches Gespräch, in dem das Gedicht als intensivste Form von Literatur und als Ort exemplarischer Erfahrungen sichtbar wird. Nach sechs Durchgängen hat sich Meran mittlerweile als eine Bühne des Gedichtes etabliert, die aus dem deutschsprachigen Raum gar nicht mehr wegzudenken ist.

Hänggärten V

Jeden Tag scheint die Sonne und ich friere nicht mehr, trotz Frost.

Kandelweiden schwingten Rübentriebe unter Riedgräsern, Trost.

Windstöße von Repolon-Volten, und fast Reuschwind zittert meinerseel.

Ob sie kommen, sich niederlassen in den Untälern Steinbrechgärten?

Hurste, Schlaf haben mich verlassen in den Granhecken der Tränke.

Rindgras um die Herlinge der Reben fast glimmt-Fichten der Ringlotten.

Frucht-Hutzeln zu Futteralen Hechelbüschen, sie rispt-Stickseln schilfern.

Ringelblumenblattfarben remailliernen Reffsel in Heetschepeetschen.

Um Hartnadeltriebe gerollte Rieselhäute, Rudickstauden, Hörnusseln.

Aber mein Rapptwort ist mir zu eng in den Hag gekommen: falls ich bin.

Rhabarbersamen zwischen den Steinholder-Rosen im Kiesrausch.

Ich werde herrlich Hunger ernten, Rogkorn, und auf Rainfarn trimbeln.

Hirschkäfer

Einmal brachtest du mir einen Hirschkäfer.

Wir suchten abseits der Straße

junge Nesseln lachten über unsere Hände

und dein Nacken war ruhig so wie im Film

der dich als Kind zeigt: immer kehrst du

einem den Rücken bis auf dieses eine Mal.

Du hast den Käfer verstanden.

Seine Rüstung war in deinen Augen

eine aus Teerstümpfen gehobene Waffe

die riesigen Kiefer nichts

als gefährlich verschwiegener Schmuck

aber mir gab der Körper

auf deiner Hand keine Auskünfte

ob da ein Herz war oder Furcht oder

Beschleunigung seines Blutes oder ein Ansteigen

der Temperatur der Hand

die du stillhieltst

für das Wappentier der Rückzüge.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung